Frauen

Feminismus am Küchentisch

von Christina Heuschen 9. Dezember 2022

Offiziell herrschte in der DDR Gleichberechtigung, doch patriarchale Strukturen waren trotzdem fest verankert. Eine Gruppe Frauen aus Prenzlauer Berg ging deshalb in die Offensive.


Elf Frauen sitzen in einer Küche in der Korsörer Straße 3 in Prenzlauer Berg. Alle sind aufgebracht und aufgewühlt, diskutieren heftig. Zu der Zeit gehen Tausende in Berlin und anderen Städten der DDR auf die Straße, es entstehen immer mehr Protestgruppen im sozialen und ökologischen Kontext. Die DDR ist in Aufbruchstimmung. Auch die Frauen sind Teil der Bewegungen, doch sie stört etwas: „Wir hatten das Gefühl, das geht irgendwie unter. Frauen spielen keine Rolle in diesen Gruppen“, sagt Ute Großmann.

Es ist der 11. Oktober 1989 als sich Großmann mit den zehn anderen Frauen in ihrer Küche trifft. Sie kennen einander privat, kommen aber aus unterschiedlichen Kontexten. Sie arbeiten als Wissenschaftlerinnen an der Humboldt-Universität, gehören zu den Frauen für den Frieden, kommen aus kirchlichen Kreisen oder sind Vertreterinnen der Gruppe Lesben in der Kirche – mit dabei sind auch Gabriele Zekina und Annett Gröschner.___STEADY_PAYWALL___

Weder in den neu entstehenden Oppositionsgruppen, noch in der SED oder im Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD), einer SED-abhängigen Massenorganisation, sehen sie Frauen betreffende Fragen angemessen vertreten. Gemeinsam wollen sie sich aus Frauenperspektive in den politischen Umbruchsprozess in der DDR einmischen. Noch am gleichen Abend gründen sie eine politisch-feministische Gruppe, die Lila Offensive (LILO) ist geboren.

 

Gesellschaftliche Herausforderungen als Frauenfragen

Mit ihren Forderungen und Einschätzungen sind die Mitglieder der LILO und anderer Gruppen ihrer Zeit weit voraus. „Gerade im Herbst 1989/90 haben sie die großen ‚gesellschaftlichen Herausforderungen‘ zu Frauenfragen erklärt und sich nicht ‚nur‘ mit Frauenthemen beschäftigt. Die ostdeutschen Frauen haben in dieser Umbruchszeit sehr beeindruckend gezeigt, wie unerschrocken sie ihren Machtanteil eingefordert haben“, sagt Jessica Bock. Sie hat zu Frauenbewegungen in Ostdeutschland promoviert und arbeitet heute als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Digitalen Deutschen Frauenarchiv.

Anders als in Westdeutschland gelten Frauen in der DDR formal als gleichberechtigt, die Gleichberechtigung ist gesetzlich festgeschrieben. Seit 1945 schafft die SED alle Bestimmungen, die in irgendeiner Form diskriminierend sind, ab, erzählt die Wissenschaftlerin. Das geschieht nicht nur aus ideologischen Gründen, sondern es ist ökonomisch notwendig: Bedingt durch Kriegsverluste und der massenhaftem Abwanderung von Menschen braucht das Land die Arbeitskraft der Frauen.

 

Widersprüchliche Verhältnisse

Im Laufe der vier Jahrzehnte etabliert die SED immer wieder Maßnahmen, um mehr Gleichberechtigung zu erreichen. Schon in den 1950er Jahren gibt es entsprechende Bestimmungen und unterschiedliche Förderpläne, alleinerziehende Mütter oder alleinstehende Frauen zu unterstützen, um sie in die Berufstätigkeit zu bringen und sie zu qualifizieren.

„Das war auch etwas von oben Gesteuertes. Trotz dieser Politik, die auch nur auf die Frauen und nicht auf die Männer ausgerichtet war, trotz dieser vielen Maßnahmen und Bestimmungen, gesetzlichen Rahmenbedingungen, wurden die patriarchalen Verhältnisse nicht abgeschafft“, so Bock.

Tatsächlich sind Frauen weiterhin kaum in Führungspositionen vertreten, sie sind von Gewalt in der Ehe betroffen und erleben häufig eine Mehrfachbelastung durch Familie, Haushalt und Beruf. Zahlreiche Frauen erkennen, dass dies kein individuelles Problem ist, sondern dass politische und gesellschaftliche Strukturen dafür verantwortlich sind. „Die Frauen haben den Widerspruch gemerkt zwischen dieser staatlichen Propagierung der Gleichberechtigung, dass Frauen emanzipiert sind und die Gleichstellung erreicht ist, und dem, was sie alltäglich erfahren haben“, erklärt Bock.

 

Immer mehr Frauen organisieren sich, die Themen werden vielfältiger

Mit dem Beginn der 1980er Jahre bildet sich schließlich eine staatlich unabhängige Frauenbewegung. Anfangs ist diese noch überschaubar und auf wenige Städte wie Dresden und Leipzig verteilt, das Zentrum liegt in Ostberlin – insbesondere in den Gründerzeitvierteln der Innenstadt. Wenige Jahre später wird die Frauenbewegung einen großen Anteil an der Friedlichen Revolution haben.

Einen Anfang machen die Frauen für den Frieden“. Als am 25. März 1982 das Wehrdienstgesetz verabschiedet wird, schließen sich zahlreiche Frauen zusammen. Sie kritisieren die atomare Aufrüstung und Militarisierung der DDR und verstehen sich als Teil der internationalen Frauenbewegung. Auch Ute Großmann ist anfangs in einer friedensbewegten Gruppe – der „Schwerter zu Pflugscharen“.

Lesbische Frauen beginnen ebenfalls, sich zu organisieren. Dies ist trotz des bestehenden Versammlungs- und Veröffentlichungsverbots nur möglich, weil die evangelische Kirche sich für Gruppen wie „Lesben in der Kirche“ öffnet. Ab 1984 treffen sich die Frauen in der Gethsemanekirche. Sie machen lesbisches Leben sichtbar, führen Beratungen durch und bieten Unterstützung beim Coming-Out.

Immer mehr Frauen tun sich zusammen, die Themen werden vielfältiger. Sie beschäftigen sich mit feministischer Theologie, setzen sich kritisch mit Stereotypen und Geschlechterrollen auseinander und machen auf sexualisierte Gewalt aufmerksam. Bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre beginnen die verschiedenen Frauengruppen, sich in der ganzen DDR zu vernetzen. Im Selbstverlag geben sie informelle Frauenzeitschriften heraus, die mit dem Zusatz „nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ versehen sind. „Das Lila Band“, „Das Netz“ und „Frau anders“ ermöglichen den Austausch und auch die Vernetzung innerhalb der Gruppen.

 

Eine revolutionäre Zeit

Auch die Frauen der LILO tauschen sich aus. Sie diskutieren viel, oft nächtelang. Anfangs nur über die Pamphlete der einzelnen Gruppen innerhalb der Bürgerbewegung, nur kurze Zeit später verfassen sie ihre eigenen Positionen. Häufiger vergehen Stunden, bevor sich die Mitglieder auf eine Formulierung einigen können, es gibt endlose Debatten über einzelne Wörter. Es entstehen Inhalte, die am nächsten Abend schon wieder überholt sein können, denn die Verhältnisse in der DDR verändern sich rasend schnell. Doch die Frauen entwickeln Forderungen, die bis heute gültig sind.

„Wir hatten das Gefühl, dass die Gesellschaft zerbröckelt und sich alles verändern wird, das war eine Form existenzieller Bedrohung. Ich wollte das nicht über mich ergehen zu lassen, sondern mich für die Themen, die mir wichtig waren und heute noch sind, einsetzen. Ich wollte für Frauenthemen einstehen“, sagt Großmann heute.

Deshalb wird auch ihre Wohnung zu einem der wichtigsten Orte der Ostberliner Frauenbewegung. Die LILO trifft sich abwechselnd bei Großmann in der Korsörerstraße 3 und in den Wohnungen der anderen Frauen in Prenzlauer Berg. „Wir mussten uns eigentlich immer zu Hause treffen, denn die Kinder konnten wir ja nicht alleine lassen.“ Während die Kinder schlafen, diskutieren sie, verfassen Flugblätter und andere Schriften, versuchen sich Gehör zu schaffen und organisieren Veranstaltungen.

 

Frauen gehen in die Offensive

Am 4.November 1989 tritt die LILO erstmals bei der Berliner Demonstration in die Öffentlichkeit. Auf dem Alexanderplatz verteilen sie ihre erste Flugschrift, auf einem mitgeführten Transparent steht das Kürzel des staatstreuen Frauenbundes mit neuem Inhalt: „Dienstbar – Folgsam – Dumpf“. Die Demonstrantinnen forderen unter anderem eine bessere Bewertung „frauentypischer“ Berufe, die Förderung von Frauen in Wissenschaft und Technik, eine Quotenregelung in allen Bereichen und den Abbau der rollenspezifischen Erziehung, eine neue Frauenorganisation, verschiedene unabhängige Frauenzeitungen und -zentren sowie ein Frauenministerium.

Am 23. November 1989 lädt die LILO zu ihrer ersten Veranstaltung in die Berliner Gethsemanekirche ein. Sie wollen vor allem ihre Unzufriedenheit mit den Ergebnissen von vierzig Jahren DDR-Frauenpolitik öffentlich machen und Wege hin zu einer frauengerechten Gesellschaft aufzeigen. Der Andrang ist groß: Es kommen mehr Leute, als die Frauen erwartet haben. Im Anschluss bilden Vertreterinnen der LILO, der Sozialistischen Fraueninitiative und die Kulturwissenschaftlerin Ina Merkel ein Komitee, das die Gründung eines autonomen Frauenverbandes vorantreiben soll.

Unter Hochdruck erarbeiten sie ein Forderungspapier: Nur wenige Tage später kommt es zu einem Frauentreffen in der Berliner Volksbühne. Rund 1.200 Frauen und ein paar Männer folgen dem Aufruf des Kommitees. Gemeinsam rufen sie den Unabhängigen Frauenverband der DDR (UFV) ins Leben. Die Mitglieder des UFV und der LILO erkämpfen sich Stühle an Runden Tischen und streiten dort für Frauenhäuser, eine Gleichstellungsbeauftragte und Frauentkulturzentren.

Die wenigen Monate vergehen für Großmann wie im Zeitraffer. Wann sie in dieser Zeit schläft, weiß sie nicht mehr, der Einsatz für Frauen steht für sie und ihre Freundinnen im Vordergrund. Bis heute haben die Taten der Frauen Wirkung. Denn die vielfältige Infrastruktur, die sie seit 1989/90 aufgebaut haben, gibt es zu einem Teil heute noch. Auch die LILO, die Ute Großmann mit organisiert hat, existiert weiterhin. Mit dem Projekt Frauenkreise bekämpft die LILO von der Choriner Straße aus strukturelle Diskriminierungen von Frauen aus intersektionaler Perspektive.

 

Titelbild: Christina Heuschen

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