Am 4. November 1989, fünf Tage vor dem Mauerfall, demonstrierten 500 000 Menschen – auch viele Prenzlauer Berger – auf dem Alexanderplatz für Meinungsfreiheit. Anne Schäfer-Junker war mit ihrer Kamera dabei.
Dies ist ein Text aus unserer Reihe
„Mauerfall revisited“
Von Alina Sölter
Es ist ein herbstlicher Dienstagnachmittag in der Invalidenstraße 10, unweit der Gedenkstätte Berliner Mauer. Nur 500 Meter von hier entfernt erinnern die letzten aufrechterhaltenen Mauerreste an den ehemaligen „Antifaschistischen Schutzwall“. Das italienische Restaurant mit den typisch rot-weiß karierten Tischdecken bietet Schutz vor dem kalten Oktoberwind, am Fenster ist noch ein Platz frei.
Hier treffe ich Anne Schäfer-Junker. Die Journalistin bei der Berliner Woche hat ihren Laptop mitgebracht. Sie will mir Fotos von einem Tag zeigen, der in den wenigsten Geschichtsbüchern steht: Der 4. November 1989. An diesem Tag gingen über 500.000 DDR-Bürgern in der ersten offiziell genehmigten, nicht- staatlichen Demonstration der Deutschen Demokratischen Republik auf die Straße.
Ich bin im Jahr 1992 geboren – in meiner Realität gab es immer nur ein Deutschland. Für Schäfer-Junker war die innerdeutsche Grenze Teil ihres Lebens. Als sie nach ihrem Philosophie-Studium in Jena 1972 nach Ost-Berlin zog, hatte die Mauer noch 17 Jahre vor sich.
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„Mauerfall revisited“
Kaum jemand blieb zu Hause
Im Revolutionsherbst 1989 lag die Macht auf der Straße. Die DDR war nicht nur finanziell, sondern auch politisch bankrott. Während sich die innenpolitischen Probleme zuspitzten, versammelten sich im Oktober im Großen Saal des Deutschen Theaters 800 Theaterschaffende, um den großen Tag zu planen. Am 4. November wollten sie, zusammen mit den DDR-Bürgern, für die Paragraphen 27 und 29 der Verfassung der DDR demonstrieren und das Recht auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit einfordern. Ganz Ost-Berlin sprach über den 4. November. Wer irgendwie konnte, folgte dem Aufruf. Dass die Demonstration offiziell genehmigt wurde, zeigt, wie sehr die Regierung unter Druck stand. Kaum jemand blieb zu Hause.
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Am Vorabend des 4. Novembers 1989 telefonierte Schäfer-Junker mit ihrem guten Freund, dem Theaterkritiker Dieter Krebs, der genau wie sie der morgigen Demonstration entgegenfieberte. Bisher ahnte sie nicht, dass sie in wenigen Stunden neben Schriftstellern wie Christa Wolf oder Stefan Heym am Alexanderplatz stehen würde. Krebs erzählte ihr, dass sich die Redner der Abschlusskundgebung im Café Espresso am Alexanderplatz versammeln würden, sie könne mit ihrer Kamera dabei sein.
Das Credo: Keine Gewalt
„Die anderen Journalisten wussten nichts vom Espresso“, erinnert sich Anne Schäfer-Junker. Die 221 akkreditierten Journalisten mischten sich unter die Demonstranten, die sich bereits durch die Schönhauser Allee schoben und sich für die Abschlusskundgebung vor dem Haus des Reisens auf dem Alex versammelten. Dass die Leute sich trauten auf die Straßen zu gehen, imponierte Anne Schäfer-Junker am meisten. Die Stimmung sei mal heiter, mal still gewesen. Mit den Transparenten und Plakaten drückten sie hren Unmut aus. Darauf stand: „SED – nee, Dass ich das noch erleben darf“ und „Wir brauchen Architekten und keine Tapezierer“. Letzteres bezog sich auf Kurt Hager, den Chefideologen der SED-Parteiführung.
Offene Äußerungen der Kritik am Staat – zuvor undenkbar gewesen. Niemand wusste, ob es zu Ausschreitungen kommen würde. An der Mauer standen die Grenztruppen bereit. „Aber auf dem Alex gab es ein Credo“, sagte Anne Schäfer–Junker, „keine Gewalt.“
Der gleiche, fragende Unterton
Im Café Espresso sei die Stimmung angeregt und nervös gewesen, berichtet Schäfer- Junker. Auf einem Foto hielt sie den Moment fest, wie Tamara Danz, ehemalige und inzwischen verstorbene Sängerin von Silly, ehrfürchtig zu Stefan Heym schaut. Ihre Bilder spiegeln auch die Hoffnung der Menschen wider. Als Stefan Heym aus dem Café trat, um auf die Bühne zu klettern, teilte sich die Menge. „Die Leute hatten großen Respekt vor dem Schriftsteller“, sagt sie. Die Kultur habe auch ihr am 4. November und an den Tagen der Herbstrevolution 1989 Kraft gegeben.
„Die Redner wussten nicht, wie die Masse reagieren würde“, erinnert sich Schäfer-Junker. Manche Beiträge wurden befürwortend applaudiert, andere, wie die von SED-Politiker Günter Schabowski, kamen weniger gut an. Die teilweise von der SED lange zensierten Redner der Opposition wie Christa Wolf, Ulrich Mühe und Heiner Müller, aber auch der Schauspieler Jan Josef Liefers, Gregor Gysi und der Bühnenbildner Henning Schaller, der die Kundgebung moderierte, hatten eins gemein: „Alle Ansprachen hatten den gleichen, fragenden Unterton. Wir wollten nicht zurück, aber wir wussten auch nicht, wie es weitergehen sollte“.
„Ein friedlicher Großangriff auf das System“
Am Abend des 4. Novembers sei Anne Schäfer-Junker hoffnungsvoll gewesen. Die Demonstration war gewaltfrei geblieben. „Wir haben dem Staat deutlich signalisiert: So wollen wir nicht weiter.“ Aber es sei ein gutes Gefühl gewesen. „Der 4. November war ein friedlicher Großangriff auf das System. Danach ging es nicht mehr zurück. Wir wollten Freiheit haben.“ Dass die Mauer am 9. November 1989 fallen würde, ahnte fünf Tage zuvor noch niemand. Der 4. November war ein Tag zwischen den Epochen, ohne den es zu den Ereignissen der folgenden Tage wahrscheinlich nicht gekommen wäre.
Nach zwei Stunden verabschiede ich mich wieder von Anne-Schäfer Junker. Ich habe gelernt, dass der 4. November wichtiger war, als er in den Chroniken der Herbstrevolution 1989 vielleicht erscheint. Anne Schäfer-Junker und ihre Fotos erzählen von einem Tag, an dem die Menschen bereits wussten, „dass sich was verändern muss, dass es jetzt sein muss und dass es gemeinsam sein muss.“
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Anne Schäfer-Junker arbeitet heute weiterhin als Journalistin für die Berliner Woche und engagiert sich als Ortschronistin in Französisch-Buchholz sowie für die Arbeitsgruppe Immaterielles Kulturerbe im Kulturerbenetzwerk Berlin. An das Prenzlauer Berg von damals denkt sie heute noch sehr gerne zurück. Besonders an die leckeren Austern im Restaurant „Offenbach Stuben“ und an die ehemalige Bacigalupo Drehorgelmanufaktur in der Schönhauser Allee.