„Immer dreht sich alles um den Mauerfall“, kritisiert Künstlerin Karla Sachse. In ihrem umfassenden Projekt „Aufbruch 1989 – Erinnern 2019“ stellt die alteingesessene Prenzlauerbergerin deshalb die Akteure der Friedlichen Revolution in den Mittelpunkt.
Dies ist ein Text aus unserer Reihe
„Mauerfall revisited“
Während draußen eine graue Regenwand das Bild des Tages bestimmt, scheint bei Karla Sachse die Sonne: Ihre rostrot gefärbten Haare leuchten ebenso wie ihre Augen, als wir uns mit einer Tasse Tee an ihren Küchentisch setzen. Ich besuche die Künstlerin an diesem Nachmittag, um mit ihr über ihr Anfang September veröffentlichtes Projekt „Aufbruch 1989 – Erinnern 2019“ zu sprechen und gleichzeitig mehr über die Atmosphäre der Zeit während der Friedlichen Revolution zu erfahren.
Karla Sachse, 1950 im sächsischen Zschopau geboren, wohnt seit 38 Jahren in derselben Wohnung im Helmholtzkiez. Sie war und ist bestens vernetzt im Stadtteil, unzählige Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Fotograf*innen, die während der politischen Umbrüche ab dem 9. Oktober 1989 aktiv waren, zählen zu ihrem Bekanntenkreis. „Aufbruch ’89“ gibt ihnen nun eine Stimme.
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„Als die Feierlichkeiten im für den Herbst 2019 geplant wurden, war klar, dass alle wieder nur vom Mauerfall sprechen würden. Die vorausgegangenen Aktivitäten werden oft dargestellt als hätten ein paar Leute Krach gemacht, damit die Mauer fällt. Von Anfang an habe ich deshalb nach dem Aufbruch gefragt, habe mich auf die Menschen konzentriert, die schon lange viel riskiert und ihre Ängste überwunden hatten, an die Öffentlichkeit gegangen sind, um endlich demokratische Verhältnisse zu erringen“, erzählt Karla Sachse.
Zeitzeugen im Gespräch
158 Menschen aus Prenzlauer Berg, Pankow und Weissensee hat sie dafür zum Interview getroffen, die Audio-Beiträge in nächtelangen Sitzungen selbst geschnitten und die Orte auf einer Übersichtskarte markiert. Entstanden ist ein faszinierendes Gewebe aus individuellen Perspektiven auf die gleichen Ereignisse im Herbst ’89. Wer durch einen der drei Stadtteile läuft wird die großen Bodenzeichen bemerken, die auf den Gehwegen angebracht sind und einen Ort markieren, in dem Akteur*innen der Friedlichen Revolution lebten und arbeiteten. Ein QR-Code führt zu dem jeweiligen Interview auf der Projektseite, zum Beispiel zu Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D., dem Schriftsteller Peter Wawerzinek oder dem Gründer der Friedensbibliothek, Jochen Schmidt.
Allen Gesprächspartner*innen hatten sie und ihr Team die gleichen Fragen geschickt: „Was hast du gedacht, gefühlt, geprobt, getan in dem einen Monat vom 9. Oktober bis 9. November?“ zum Beispiel, oder: „Welche Vorstellungen, Träume, Wünsche, Hoffnungen hattest du für den Aufbruch, für die Zukunft (der DDR) des ostdeutschen Landes und wieviel Enthusiasmus?“ Im Gespräch seien viele Erinnerungen wieder lebendig geworden, sagt Karla Sachse. Es sei ihr aber nicht nur um die Ereignisse von damals gegangen, sondern auch um die Frage, welche Erfahrungen heute für einen Aufbruch sinnvoll wäre? „Da reichte das Spektrum der Antworten von großem Pessimismus bis hin zu Begeisterung für die Jugendlichen, die aktuell regelmäßig auf die Straße gehen.“
Anarchische Nachwendezeit
Und wie hat Karla Sachse den Herbst 1989 erlebt, welches Gefühl ist ihr am stärksten in Erinnerung geblieben? „Es war eine Euphorie! Dieses unglaubliche Gefühl aufzustehen, die Stimme zu erheben und deutlich zu artikulieren, was unerträglich ist. Selbstermutigung.“ Sachse, wie auch die meisten ihrer Bekannten, setzte sich für einen demokratisch reformierten Sozialismus ein. Als sich die Ereignisse dann überschlugen und die Grenze geöffnet wurde, seien viele zunächst paralysiert gewesen. Doch die Monate danach brachten auch ungeahnte Kräfte hervor: „Wir haben diese anarchische Zeit, in der alles möglich schien, genutzt. Und mussten doch sehen, wie die etablierten politischen Kräfte aus der Bundesrepublik alle eigenständigen Ideen gleichsam aufgesaugt oder vom Tisch gewischt haben.“
Wird denn heutzutage ausreichend an die Zeit der DDR erinnert, frage ich, denn mir fallen in Prenzlauer Berg spontan nur die Infotafeln an der Schwedter Straße und an der Böse-Brücke ein. Man könne einen Ort ja nicht mit Denkmälern zupflastern, antwortet sie und betont, dass die Bodenzeichen nur bis Ende des Jahres im Straßenbild zu sehen sein werden: „Sie sind natürlich als Würdigung der Aktiven von ’89 gedacht, aber auch als Information für diejenigen, die nicht dabei waren und für die junge Generation. Ich habe zugleich als Künstlerin und als DDR-Bürgerin agiert, denn ich erlebe, dass unsere Erfahrungen des Aufbruchs weiterhin nicht angemessen zur Kenntnis genommen werden.“ Mit ihrem Projekt wird sich das hoffentlich nun ändern.
Auf der Homepage von „Aufbruch 1989 – Erinnern 2019“ können alle Interviews nachgehört werden. Das Begleitprogramm umfasst insgesamt neun Veranstaltungen in Prenzlauer Berg, Weissensee und Pankow, sechs davon finden noch im Oktober und November statt.
Foto oben: Karla Sachse wohnt seit 38 Jahren im Helmholtzkiez / Foto: Julia Schmitz