Als wir Hausbesetzer waren

von Christian K. L. Fischer 6. Januar 2021

Mit der Wende wurde der Prenzlauer Berg zum Abenteuerspielplatz. Unser Autor erinnert sich an die Freiheit seiner Jugend im Helmholtzkiez.


Wer heute Aufnahmen aus dem Prenzlauer Berg der Wendezeit sieht, wird seinen Augen nicht trauen. Fast jeder Laden war verrammelt, praktisch jedes Haus ohne Farbe und mit abgefallen Putz, überall herrschte endlos viel Grau, Schwarz, Brau und Tristesse. Nicht, dass es uns damals aufgefallen wäre. Wir kannten nichts anderes, es war unser Zuhause und wir waren jung. Wir spielten auf dem Helmi zwischen Glassplittern und jagten uns durch die Hinterhöfe mit Spritzpistolen, die nur aufgebrauchte Duschgelflaschen aus Westpaketen waren. Und als sich auf einmal innerhalb von wenigen Tagen die ganze Welt änderte, boten das Chaos und das Machtvakuum für uns Teenager ganz neue Möglichkeiten. Gerade weil sich der halbe Stadtbezirk im Verfall befand. Viele dieser grauen Häuser standen einfach leer. Fehlende Sanierungsmaßnahmen machten einen Teil des Bestandes offenbar unbewohnbar – aber nicht für uns.
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Schwer zu sagen, wer damit angefangen hatte und wo und warum die ersten Türen aufgebrochen wurden, aber nicht nur in der Politik lag ein Duft von Selbstermächtigung in der Luft. So kehrte überall in Ostberlin plötzlich Leben in vergessene Häuser, auch in den Teil der Schliemannstraße zwischen Helmholtzplatz und Danziger, nur zwei Straßen von unserer Schule entfernt. In dem Jahr bis zur Wiedervereinigung, als alles im Fluss war und es so schien, als würde die Stadt in gelebter Anarchie funktionieren, wollten einige die Idee eines autonomen Lebens verwirklichen. Uns aber ging es damals nur um eines: Unsere ganz persönliche, kleine Freiheit.

 

Ohne Aufsicht

Wir waren 15 und hatten uns gerade die Ärmel von den FDJ-Hemden abgeschnitten und die ersten 100 DM in Schallplatten und Doc Martens mit Stahlkappe investiert. Nun, wo niemand uns mehr sagen konnte, was wir zu tun und zu lassen hatten, schufen wir uns unsere eigene Welt. Ein Freund hatte sich eine der Wohnungen in einem der besetzten Häuser in der Schliemann geschnappt, und plötzlich hatten wir ein alternatives Zuhause, mietfrei und ohne jede Autorität in der Nähe und wir lebten mit Schmuddelpunks und S.H.A.R.P.-Skins unter einem Dach. Unsere Eltern hatten keine Ahnung, wo wir uns rumtrieben, und vor allem: was wir dort trieben.

Es war kein Problem, Balken für das Hochbett zu besorgen, überall fanden wir, was wir brauchten. Aus alten Türen bauten wir die Grundlage für die Matratzen und zu unserer eigenen Überraschung hielten diese uns auch. Das Sofa darunter war von einem zum anderen Tag einfach aufgetaucht und ich hatte nie gefragt, woher es kam. Alte Fernseher standen später, im Monat nach der Währungsunion, plötzlich überall auf der Straße und ein schrottiger Ghettoblaster galt als Musikanlage. Die Wohnung war ein Abenteuerspielplatz, auf dem wir Erwachsene darstellten, die Wohnung war nur ein Projekt wie für andere das Baumhaus. Man musste nur zusehen, dass man ein gutes Vorhängeschoss anbrachte, damit die Sachen am nächsten Tag noch da waren. Grasgeruch waberte durch die Hausflure, es war immer überall Bewegung, Menschen kamen und gingen, und wir hörten Punkmusik und Rap, Exploited und Public Enemy, Pixies und Beastie Boys.

Unser wichtigster Einrichtungsgegenstand war der alte Videorekorder, um verbotene Filme zu sehen, von denen wir nur gehört hatten, weil sie auf dem Index standen. Unsere Raubkopie von „Tanz der Teufel“ war in so schlechtem Zustand, dass wir uns die Hälfte dazu denken mussten. Auf dem Hochbett war derweil Knutschzone, auch wenn nicht alle das Glück hatten, jemanden zum Knutschen zu finden. Die übrig Gebliebenen legten derweil den nächsten Film ein, den jemand von seinem großen Bruder organisiert hatte.

Hausbesetzer

Der Autor als Nachwuchs-Hausbesetzer von Prenzlauer Berg / Foto: Christian K.L. Fischer

 

Wohlstandspunks und Hedonisten

Bis auf unseren Freund, der sich die Wohnung als erstes geschnappt hatte, gingen wir abends wieder nach Hause, wo unsere warmen Zimmer, die Badewannen, Bücher, Plattensammlungen und frisch bezogenen Betten warteten. Andere richteten in den besetzten Häusern ihr Leben ein, manche aus Überzeugung, manche einfach, weil sie die Wohnung brauchten. Wir waren jedoch nur Teilzeithausbesetzter, reine Wohlstandspunks – und das ganz schamlos. Jeder kam, wann er wollte, gerne direkt nach der Schule, der wir in dieser Zeit sowieso wenig Aufmerksamkeit geschenken. Und jeder machte, was er wollte. Zumindest für ein paar Monate.

Denn schon im Herbst 1990 war dieses Leben für uns eigentlich wieder vorbei. Die zehnte Klasse war geschafft, wir gingen auf verschiedenen Gymnasien, doch vor allem passierte an so vielen andere Orten dieser Stadt ständig Neues – es gab so viel mehr als diese muffige Wohnung zu entdecken. Plötzlich nutze man den Leerstand, um an jeder Ecke Berlins neue Clubs aufzumachen, und nach und nach wurden die Nächte viel wichtiger als die Tage. Die Freiheit, die wir uns in diesen ersten Monaten nach dem Mauerfall selbst beigebracht hatten, würde uns durch diese Nächte tragen. Wir nahmen nicht an den Kämpfen um die Bewahrung der besetzten Häuser teil, aus uns Spaßbesetzern wurden einfach die Hedonisten, die wir schon immer gewesen waren.

Titelbild: Mainzer Straße 2 Juni 1990, Renate Hildebrandt

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