Brettschneider

Acht Jahrzehnte Bötzowviertel

von Christina Heuschen 2. Juli 2021

Fast ihr ganzes Leben lang wohnt Gerda Brettschneider im Bötzowviertel in Prenzlauer Berg – 65 Jahre davon sogar in derselben Wohnung. Ihren Kiez kennt sie daher bis ins kleinste Detail.


„Ich kann Ihnen sagen wer hier wo, in jeder Wohnung gewohnt hat. Oder welche Wohnung das vierte oder das fünfte Mal bezogen ist. Könnte ich Ihnen alles sagen“, erzählt Gerda Brettschneider. Die 87-Jährige wohnt mit ihrem Mann seit 1956 in der Pasteurstraße am Arnswalderplatz. Bis heute leben die beiden dort. 65 Jahre lang. Bis auf einen Zeitraum von rund drei Jahren während des Zweiten Weltkrieges hat Gerda Brettschneider schon immer in der Ecke gelebt – zunächst in der Hufelandstraße, dann in der Immanuelkirchstraße und später eben in der Pasteurstraße. Erlebt hat Frau Brettschneider im Bötzowviertel und drumherum daher so einiges.

So kann sie nicht nur genau sagen, wer wann und wie lange in ihrem Haus gewohnt hat. Sie kennt auch die Geschichten der Häuser auf der anderen Straßenseite. Gerda Brettschneider kennt den gesamten Kiez. Sie weiß, wie er sich verändert hat. Und was wo passiert ist. Vieles hat sie selbst erlebt, den Rest weiß sie aus Erzählungen. Damit ist Frau Brettschneider zum Gedächtnis des Bötzowviertels geworden.

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Das Bötzowviertel und die NS-Diktatur

Gerda Brettschneider wurde 1933 geboren. Auch wenn sie damals noch ein Kind war, kann sie sich an vieles während der NS-Diktatur gut erinnern. So weiß sie beispielsweise auch heute noch genau, wo sie sich selbst aufgehalten hat, als die erste Bombe fiel. Die kleine Gerda saß nämlich in einem Keller in der Hufelandstraße. Alle dort hätten gezittert, erinnert sie sich.

Viel einprägsamer war jedoch ein anderes Erlebnis. Gerda Brettschneider glaubt, dass es ungefähr 1941 gewesen sein muss. Damals habe sie einmal aus dem Fenster ihrer Wohnung im Quergebäude in den Hof des Nachbarhauses geschaut. Plötzlich habe sie eine Frau in einem hellen Mantel mit einem Kind an der Hand gesehen. Daneben zwei Männer mit einem Gewehr. Das Kind habe wie verrückt geschrien, erzählt sie und stockt. Dann beginnt sie von vorne und beschreibt die Szene noch einmal.

„Ich bin runtergerast wie wild und habe auf die Straße geguckt. Alle Leute standen stumm da, als die Frau auf so eine Pritsche geladen wurde. Wie im Film. Das Bild werde ich nie vergessen. Nie. Nie in meinem ganzen Leben“, erzählt sie.

Für kurze Zeit schweigt sie. Die Erlebnisse während des Krieges hatten Auswirkungen auf die kleine Gerda. Insbesondere bei Fliegeralarm bekam sie immer wieder Probleme mit dem Magen. Auf Rat eines Arztes schickte ihre Mutter das Kind aufs Land zu den Großeltern väterlicherseits. Und so verbrachte Gerda Brettschneider ihre Zeit regelmäßig in Grünberg in Schlesien. Bis sie schließlich sich von 1943 bis 1946 gar nicht mehr in Berlin aufhielt. Als der Krieg zu Ende war, floh Brettschneider mit ihren Großeltern und einer Tante über das Erzgebirge nach Tschechien. Doch lange konnten sie dort nicht bleiben und flohen zurück. Bis eines Tages ein Brief ihrer Mutter an die alte Adresse kam. „Die fragte, ob ich noch lebe und ob ich nicht zurückkommen könne“, erzählt sie.

 

Zurück nach Berlin

Und so organisierte ihr Großvater den Weg zurück nach Berlin. Ein ehemaliger Schulfreund ihres verstorbenen Vaters, der damals Schiffer auf einem Schleppdampfer war, nahm sie heimlich bis nach Fürstenberg an der Oder mit. Dort kam sie für ein paar Tage bei einer Familie unter, die Leuten half, wieder nach Deutschland zu kommen. Dieser Familie ist Gerda Brettschneider noch heute dankbar. Ihre Mutter holte sie schließlich Anfang 1947 dort ab und beide gingen zurück nach Berlin.

Die Wohnung, in der sie vor dem Krieg mit ihrer Mutter gelebt hatte, war jedoch mittlerweile beschlagnahmt worden. Also zog sie mit ihrer Mutter und einem Bruder in eine möblierten Stube. Der andere Bruder war zwischenzeitlich an der Ruhr verstorben.

Zwei Jahre war sie zu dem Zeitpunkt nicht mehr zur Schule gegangen. Lachend und so, als ob sie es noch immer nicht glauben könne, erzählt sie, dass sich der Schuldirektor dennoch entschied, sie in die sechste Klasse zu schicken. Nach weiteren zwei Jahren beendete sie schließlich die Schule. Sie begann als Bürohilfe zu arbeiten und besuchte die Handelsschule. In dieser Zeit lernte sie auch ihren Mann kennen.

Der habe sie einfach angequatscht und sich mit ihr im Friedrichshain verabredet. Da sei sie dann auch hingegangen, erzählt sie verschmitzt. Als er versetzt wurde, schrieben sie sich Briefe. Und so sei das hin- und hergegangen. „Mit dem Zuzug nach Berlin war es ganz, ganz schwer. Und deswegen haben wir ganz schnell geheiratet“, erzählt sie. Weihnachten 1952 war das. Nächstes Jahr feiern die beiden nach 70 Jahren Ehe die „Platinhochzeit“.

 

Von der Kochstube in die Zweizimmerwohnung

Zwei Jahre später kam ihr Sohn zur Welt. Zu dritt wohnten sie in einer Kochstube. Irgendwann sei ihnen dann ihre heutige Wohnung zugeteilt worden: zwei Zimmer, Küche, Bad, Neubau. „Wissen Sie, wie wir hier eingezogen sind, wie glücklich wir waren?“, fragt sie. Sie habe sich so sehr gefreut, dass sie die ganzen Mängel gar nicht gesehen habe. Die Wände schief, Fußbodenfliesen an den Wänden in der Küche und im Bad. Ihr Haus sei ein Lehrlingsbau gewesen. Die richtigen Fliesen hätten die Bauarbeiter verscheuert, glaubt Gerda Brettschneider.

Das Bötzowviertel nach dem Zweiten Weltkrieg / Grafik: Geoportal Berlin

 

Die Altbauten, die vor dem Lehrlingsbau dort standen, seien im Zweiten Weltkrieg zerstört worden, erzählt Gerda Brettschneider. Ganze Blöcke waren dort zerbombt worden. Sie erinnert sich noch, wie die Trümmer beseitigt wurden: „Wir haben Steine gekloppt. Die kamen dann in eine Lore am Königstor und wurden weggebracht. Manche Häuser sind, und vielleicht hier auch noch, von solchen Ziegelsteinen gebaut worden.“

Tatsächlich wurde ein Großteil der Gebäude im östlichen Teil des Bötzowviertels während des Zweiten Weltkrieges zerstört. Der westliche Teil des Wohngebietes überstand den Krieg jedoch weitgehend unversehrt und so stehen auch heute noch Häuser aus der Gründerzeit dort. Die Lücken wurden mit neuen Häusern aufgefüllt.

Hinter dem Haus von Gerda Brettschneider dagegen wurden Bäume gepflanzt. Die waren damals so klein, dass sie aus ihrem Schlafzimmer- und Küchenfenster heraus noch den Kindergarten sehen konnte, der später dort gebaut wurde. Heute ist der Kindergarten höchstens noch zu erahnen. Denn die Bäume sind mittlerweile meterhoch gewachsen.

Blick auf den Kindergarten / Foto: privat

 

Milchkannen und Butterblöcke

Am meisten hätten sich aber die Läden verändert, sagt Gerda Brettschneider. Dabei zeigt sie in verschiedene Richtungen und zählt auf, wo sich welcher Laden befand. Sie weiß, wo der Zigarettenladen war, wo der Fleischer sein Ladengeschäft hatte, wo das Waschhaus stand und wo Milchprodukte verkauft wurden. Direkt gegenüber sei das gewesen. In der DDR habe sie dort mit Lebensmittelkarten Milch in der Kanne geholt. Die Butter sei noch vom Block abgeschnitten worden. Heute sei das aber kein Ladenlokal mehr, sondern eine Wohnung. In der Stube müsse sich aber noch eine Klappe zum Keller des Milchladens befinden.

Auch wenn sich einiges geändert hat und es mittlerweile beschwerlich ist, die Treppen hochzulaufen: umziehen möchte Gerda Brettschneider nicht. Ihr Sohn hat mal eine Wohnung für sie gesucht. Sie hätten eine in Marzahn haben können. Doch Brettschneider hatte zu viel Angst vor einem Umzug. Sie hätte sich an so viel Neues gewöhnen müssen. Da bleibt sie viel lieber in der Pasteurstraße. Die kennt sie auch mit ihren Veränderungen.

 

Die Frau der sieben Schlüssel

Und dann sind da noch ihre Erinnerungen, die sie an den Ort binden. In ihrem Haus sei die Gemeinschaft immer sehr stark gewesen. Das Vertrauen groß. So habe sie sieben Schlüssel gehütet. Eine Nachbarin habe ihren Wohnungsschlüssel gehabt – alles für den Fall, dass jemand mal nicht da ist. Denn alle Nachbar*innen haben sich umeinander gekümmert und ausgeholfen. Gerda Brettschneider und ihr Mann natürlich auch. Sie erzählt lächelnd davon, wie sie sich bei ihrer Nachbarin regelmäßig Senf geborgt habe und diese im Gegenzug Mehl bei ihr. Oder wenn ihr Mann und sie beide Nachtschicht hatten, da sei eine Nachbarin regelmäßig rübergekommen, um nach dem Sohn zu schauen.

Mittlerweile hat Frau Brettschneider nur noch einen Schlüssel zu einer anderen Wohnung. Und nur drei Mietparteien leben im Haus, die zu DDR-Zeiten eingezogen sind. Gerda Brettschneider und ihr Mann sind tatsächlich die letzten, die von Anfang an dort wohnen. Die anderen seien weggezogen, ein großer Teil sei verstorben. Nur in den Häusern nebenan gibt es noch zwei Nachbarinnen, die so lange wie die Brettschneiders dort leben.

„Wissen Sie, wie komisch das ist? Sie haben manchmal das Gefühl, sie möchten noch irgendwas fragen. Das können Sie aber irgendwann nicht mehr“, erzählt Gerda Brettschneider. „Vergessen Sie nie, ihre Eltern, ihre Großeltern oder irgendjemanden nach deren Geschichte zu fragen. Es gibt so viele Dinge, da denken Sie jetzt gar noch nicht dran. Wenn Sie älter sind, da möchten Sie irgendwas noch wissen und dann ist das alles weg“, rät sie. Gerda Brettschneider hat es im Bötzowviertel getan.

 

Titelfoto: Christina Heuschen

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