Memorial

Man sollte sich einmischen

von Katharina Angus 11. März 2022

In Russland hat der Oberste Gerichtshof die Menschenrechtsorganisation Memorial verboten, doch in ihrer Zweigstelle in Prenzlauer Berg geht die Arbeit weiter. Wir haben mit Dr. Vera Ammer, Mitglied im Vorstand von Memorial International, über die Lage in Russland und in der Ukraine gesprochen.


Seit den 1980er Jahren klärt die Menschenrechtsorganisation Memorial über stalinistische Verbrechen und über aktuelle Menschenrechtsverletzungen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion auf. Doch dann kam das Aus. Mit angeblichen Verstößen gegen das sogenannte Agentengesetz hatte der Oberste Gerichtshof die Zwangsauflösung der NGO begründet. Kritiker*innen sehen dies als weitere Methode, um die  zivilgesellschaftliche Organisation zum Schweigen zu bringen.

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Wie gestaltet sich im Moment Ihr Kontakt mit den russischen und ukrainischen Partnerorganisationen?

Zu Memorial in Moskau hielten wir bislang Kontakt per Mail und über soziale Netzwerke. Am letzten Freitag, den 4. März, führten die einschlägigen russischen Organe Durchsuchungen in den beiden Moskauer Gebäuden durch – unter anderem im Büro von Memorial International in Moskau und im Menschenrechtszentrum. Den anwesenden Mitarbeitern wurden die Mobiltelefone abgenommen, Anwälten und Kollegen, einschließlich dem Vorsitzenden von Memorial International, wurde der Zugang verwehrt. Die Aktion dauerte über 14 Stunden. Als Vorwand diente ein Verfahren, das kürzlich gegen ein Mitglied des Menschenrechtszentrums eingeleitet wurde. Beschlagnahmt wurden Computer, Festplatten, Datenträger und Dokumente. Dadurch ist Memorial International augenblicklich kaum noch aktionsfähig. Die weitere Entwicklung ist nicht absehbar. Unsere Kollegen in der Ukraine sind größtenteils auf der Flucht, nicht zu allen besteht Kontakt.

 

Ihre Organisation beschäftigt sich mit der Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Steht gerade sie deshalb auch im Fokus der Repressionen, weil Putins Propaganda diese Zeit verherrlicht?

Natürlich spielt das Geschichtsbild, das Putin verbreiten will, eine große Rolle. Er hat zwar die Verbrechen Stalins nie direkt bestritten. Sie wurden seinerzeit offiziell bestätigt, fortan aber zunehmend ignoriert. Stalin erscheint in den Staatsmedien als Held, der im Zweiten Weltkrieg die Faschisten besiegt hat. Der Sieg wird heute allein der Sowjetunion und Russland zugeschrieben. Die Ukraine und Belarus, die am meisten unter der deutschen Besatzung zu leiden hatten, werden ausgespart. Diesen Triumph will Putin jetzt reproduzieren, indem er vorgibt, in der Ukraine dasselbe zu tun. Eine Organisation wie Memorial, die ein anderes Geschichtsbild vermittelt, steht ihm dabei im Weg. Alle Verbrechen Stalins und der Sowjetunion sollen ausgeblendet werden. Außerdem hat unser Menschenrechtszentrum auch aktuelle Kriegsverbrechen, beispielsweise in Tschetschenien und der Ukraine, untersucht.

 

Haben Sie und Ihre Kolleg*innen den Krieg kommen sehen?

Der Krieg hat vor acht Jahren in der Ostukraine bereits begonnen. Als letzten Herbst die ersten Verdachtsmomente einer Ausweitung des Krieges aufkamen, wurden die Anzeichen dafür in der Innenpolitik Russlands spürbar. Beispielsweise mit der Einleitung des Verbotsverfahrens gegen Memorial International und das Menschenrechtszentrum. Wir hatten sofort die Befürchtung, dass hier ein Zusammenhang bestehen könnte. Innen- und Außenpolitik werden immer aufeinander abgestimmt. Das Verbot gegen unsere Organisation wurde am 28. Februar dieses Jahres rechtskräftig, beinahe zeitgleich mit den Angriffen auf die Ukraine.

 

Was bezweckt Putin wirklich damit?

Dieser Krieg ist ein solcher Irrsinn, dass ich Putins Motive dafür absolut nicht nachvollziehen kann. Sicherlich will er ein großes Russland, in dessen Umgebung es keine demokratischen Alternativen gibt. Eine demokratische freie Ukraine, die auch attraktiv für die russische Gesellschaft sein könnte, fürchtet er. Aber das ist ein schwaches Motiv für diesen großen Krieg, der ihn sehr teuer zu stehen kommen wird. Man sollte sich daran erinnern, dass der Partisanenkrieg in der Ukraine nach dem zweiten Weltkrieg noch fast ein Jahrzehnt weitergeführt wurde. Das war alles andere als harmlos. Heute sind die Menschen in der Ukraine natürlich viel mehr motiviert, für ihr Land und für ihre Freiheit zu kämpfen. Entweder Putin war sich dessen nicht bewusst oder er ist tatsächlich bereit, diesen hohen Preis zu zahlen, um Terror in die Nachbarländer zu tragen und jegliche demokratischen Alternativen in den früheren Mitgliedstaaten der Sowjetunion zu verhindern. Das wäre nur mit absoluter Besessenheit zu erklären. Wer weiß, was er als Nächstes vorhat.

 

Wie personengebunden schätzen Sie das System Putin ein, gäbe es Hoffnung durch einen Machtwechsel?

Das kommt auf den Zeitpunkt und die Umstände eines möglichen Machtwechsels an. Zwar ist das politische System Russlands derzeit eng an die Person Putin gebunden, es basiert aber auf vielen Menschen, die es mittragen. Käme jemand aus seiner unmittelbaren Umgebung, wie Sergei Schoigu, an die Macht, würde sich nichts ändern. Wer hingegen etwas ändern würde, hat keine Chance, an die Macht zu kommen.

 

Wie schätzen Sie die Proteste von russischer Seite ein?

Die werden sich sicher noch ausweiten. Es gibt neben Unterschriftenlisten von diversen Berufsgruppen, die sich gegen den Krieg richten, zahlreiche Kundgebungen, die von staatlicher Seite aber sofort brutal unterbunden werden. Ein neu erlassenes Gesetz verbietet Begriffe wie „Krieg“, „Verluste“ und jegliche Berichterstattung, die von zivilen Opfern in der Ukraine spricht. Offiziell handelt es sich um eine Militäroperation in der Ostukraine. Wer etwas anderes behauptet, riskiert bis zu fünfzehn Jahre Haft. Die Proteste in Russland sind ehrenrettend für die Bevölkerung, aber dass sie sich zu einem regelrechten Aufstand ausweiten, kann ich mir derzeit aufgrund der massiven Unterdrückung der Opposition nicht vorstellen.

 

Welche Möglichkeiten zur freien Information stehen der russischen Bevölkerung noch zur Verfügung?

Mittlerweile haben auch freie russische Sender wie „Dozhd“ ihre Tätigkeit einstellen müssen. Dozhd hatte zuvor ganz offen berichtet. Noch gibt es die Novaja gazeta, aber man muss weitgehend auf ausländische Quellen zurückgreifen. Die BBC hat ihre Kurzwellen wieder eingeschaltet, sodass man sie im Radio empfangen kann, was sehr wichtig ist. Ansonsten funktioniert freie Kommunikation nur noch über verschlüsselte Daten.

 

Die Umsetzung der verschiedenen Repressionen in Russland wirkt oft sehr undurchsichtig. Steckt ein System dahinter?

Bei der Umsetzung von Repressionen kommt es stark auf lokale Behörden und Gouverneure an. Manchmal ist erstaunlich viel möglich, dann wieder versetzt einen das Ausmaß der Beschränkungen in Erstaunen. In Perm gab es einen Fall, wo ein älterer Mann seine Gäste aus Litauen angeblich nicht korrekt bei den Behörden angemeldet hatte und in der Folge zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde. Wir haben damals Spenden für ihn gesammelt. Er hat allerdings Einspruch gegen das Urteil eingelegt und nicht bloß Recht vor Gericht bekommen, sondern auch eine volle Entschädigung. Solche Prozesse liefen bisher parallel zum Unterdrückungsapparat.

 

Zeichnet sich in der Zustimmung für Putin bei der Bevölkerung eine Generationengrenze ab; sind ältere Menschen anfälliger für seine Propaganda?

So pauschal kann man das nicht sagen. Natürlich sind die Menschen ab sechzig Jahren aufwärts dem Internet weniger zugetan als die junge Generation und informieren sich vor allem durch das Fernsehen, wo Putins Propaganda läuft. Aber auch im Internet kommen regimetreue Menschen auf ihre Kosten. In den sozialen Netzwerken wimmelt es von den Inhalten, die auch im russischen Fernsehen verbreitet werden. Hierbei geht es nicht um die alte kommunistische Ideologie, sondern um eine nationalistisch imperialistische Idee eines starken vereinten Russlands, das Amerika die Stirn bietet.

 

Es kommt inzwischen auch zum Boykott russischer kultureller Organisationen durch den Westen. Führen diese Maßnahmen zu weit?

Bei den kulturellen Kontakten sollte man darauf achten, welche Institutionen es betrifft. Gerade im Kulturbereich sprießt Widerstand, aber auch bei den Organisationen, die man weiter unterstützen möchte, wird es mit dem Ausschluss vom SWIFT-System technisch schwierig, Kooperationen aufrecht zu erhalten. Ich bin für einen Boykott von Institutionen, die den Krieg unterstützen und ich glaube, dass die Übrigen dafür Verständnis haben werden. Sie wissen, dass nicht sie gemeint sind. Von großer Wichtigkeit wäre es auch, darauf zu achten, dass an sich berechtigte Boykottmaßnahmen im IT-Bereich nicht dazu führen, dass das russische Publikum, das sich im Internet informiert, von diesen Informationsquellen abgeschnitten wird.

 

Was wünschen Sie sich von Seiten deutscher Politik und Bürger*innenaktivismus?

Man sollte sich, soweit es geht, einmischen. Jetzt kommt viel Flüchtlingsarbeit auf uns zu – auch aus Russland werden sich Flüchtlinge auf den Weg machen. Hier sind möglichst niedrige bürokratische Hürden gefragt, was etwa die Erteilung von Visa und Aufenthaltsgenehmigungen angeht. Medial ist es wichtig, weiterhin über Geschehnisse wie das Verbot von Memorial International und anderen Organisationen zu berichten, auch dann, wenn wieder andere tagesaktuelle Ereignisse in die Nachrichten drängen. Obwohl NGOs verboten werden existieren die Menschen noch, die für sie gearbeitet haben. Zu ihnen darf man den Kontakt nicht verlieren und auch nicht zu den Anwälten, die sie vertreten. Man muss deren Lage immer wieder auf jeder Verhandlungsebene zur Sprache bringen, damit diese Menschen nicht am Jahresende bereits vergessen sind.

 


„Agentengesetz“ in Russland

Laut dem sogenannten Agentengesetz (russisch: „Gesetz zu nicht offiziellen Organisationen“), das 2012 in Russland verabschiedet wurde, gelten alle NGOs, die Geld aus dem Ausland beziehen und „politisch tätig“ sind als „ausländische Agenten“. Die Definition einer politischen Tätigkeit ist hierbei vom Gesetzgeber nicht klar abgegrenzt. In der Politikwissenschaft wird die Verschärfung des Gesetzes, dessen Urform seit 1996 im russischen Recht verankert ist, als Reaktion auf die Farbrevolutionen in ehemals sowjetischen Republiken gedeutet (Orangene Revolution in der Ukraine 2004/2005, Rosenrevolution in Georgien 2003, Tulpenrevolution in Kirgisien 2005).

Außer einem enormem Verwaltungsaufwand, hohen Bußgeldern bei bürokratischen Fehlern und strenger Beobachtung der betreffenden Organisation durch die Staatsorgane, bringt die Benennung als „ausländischer Agent“ die Organisationen mit Spionage in Verbindung und verschafft ihnen auf diese Weise einen schlechten Ruf in der russischen Gesellschaft. Seit 2020 kann der Titel nicht nur an politische NGOs vergeben werden sondern auch an Medien oder Einzelpersonen.


Foto: Sabine Erdmann-Kutnevič

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