Nirit

„Es ist ein Minenfeld“

von Sonja Koller 13. Oktober 2021

Nirit Ben Joseph war die Erste, die in Berlin Stadtführungen mit Schwerpunkt auf jüdische Themen anbot. Doch das, was sie während der Führungen regelmäßig erlebt, ist für sie selbst nach Jahrzehnten noch nicht Alltag.


Unter einem Baum in der Rosenstraße, nahe des Hackeschen Markt, stehen schon fünf Minuten vor dem vereinbarten Treffpunkt elf Menschen. Zwei Sonnenhüte sind dabei, eine Wanderhose, drei Paar Sandalen mit Klettverschlüssen. Und in der Mitte, im blauen Sommerkleid mit weißen Punkten: Nirit Ben Joseph. Sie leitet an diesem Sonntag die „Jüdische Tour“ durch Berlin, eine von 16 Stadtführungen, die sie in in der Stadt anbietet.

Nirits kurze Haare sind zwar weiß, lassen sie aber jung wirken. Schon in den ersten Minuten hängen die Zuhörer*innen an ihren Lippen, wenn sie von der Gründung Berlins erzählt. Und davon, wie Juden im 16. Jahrhundert aus Berlin und Brandenburg verbannt wurden, weil der Sohn eines verstorbenen Königs die Schulden seines Vaters bei einem Juden nicht begleichen wollte. Nirit erzählt von der Geschichte jüdischen Lebens in Berlin – an diesem Sonntag in drei Sprachen: Englisch, Deutsch und Hebräisch. Letzteres für zwei Teilnehmerinnen der Führung, die erst vor kurzem von Israel nach Berlin gezogen sind. Bei Nirit selbst ist es schon etwas länger her: 1987 kam sie als Studentin von Israel nach Berlin und blieb wegen der Liebe.
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Ein Leben in Berlin bedarf der Rechtfertigung

Doch das kommt bei vielen Israelis, die sie durch Berlin führt, nicht gut an. „Wie kannst du hier leben?“, „Ist dein Mann Jude?“, „Hast du kein schlechtes Gewissen?“ „Und deine Kinder, sind die Juden?“. Nirit muss sich für ihr Leben in Deutschland ständig rechtfertigen. Ob sie Angst hat, dass Juden in Deutschland wieder verfolgt werden könnten, wollen Gäste auch wissen. Aber Angst hat Nirit vor allem davor, dass deutsche Teilnehmer*innen etwas Falsches sagen. Aus dem Grund verzichtet sie bewusst auf Führungen im Haus der Wannseekonferenz. Egal, ob sie Juden oder Menschen Gojs, Menschen nichtjüdischen Glaubens, durch die Stadt führt, „es ist ein Minenfeld“, sagt die Prenzlauer Bergerin.
Deutsche hätten oft das Gefühl, sich persönlich bei ihr entschuldigen zu müssen, erzählt sie. Im Gespräch macht sie eine wegwerfende Handbewegung und rollt mit den Augen. „Komm schon“ sagt sie, ihre Führungen sollen nicht zu emotional werden, auf die Tränendrüse drückt Nirit deshalb bewusst nie. Auch bei der Tour an diesem Sonntag vermittelt sie stattdessen Fakten und bleibt sachlich.

 

„Warum sind die Grabsteine so klein?“

Trotzdem ist ihr Job für Nirit emotional belastend. Viele Gäste vertrauen sich ihr während kurzer Pausen auf Touren an, erzählen traumatische Geschichten. Einmal, während einer Führung über den Jüdischen Friedhof Weißensee, erfuhren Kinder erst von verstorbenen Verwandten, als sie vor dem Grab dieser standen. Wenn sie Besucher*innen durch Friedhöfe führt, gerät Nirit häufig in Situationen, auf die sie sich emotional nicht vorbereiten kann. Sie erzählt davon, dass sie einmal während einer Führung auf dem Jüdischen Friedhof mit Kindern falsch abgebogen sei und sie an den Kindergräbern vorbeiführte. „Warum sind die Grabsteine so klein?“ fragten die jungen Gäste.

Ihre Augen werden glasig, als sie davon erzählt. Sie spricht jetzt langsamer und leiser, macht Denkpausen. Solche Erlebnisse sind belastend: „Das muss ich mit mir rumtragen“ sagt Nirit, oft kann sie danach nicht schlafen. Die Distanzierung wird durch die jahrelange Erfahrung nicht leichter, sondern schwerer. Acht Monate arbeitet sie meist am Stück, nach Ende der Saison sei sie im Winter oft krank und müsse von Arztpraxis zu Arztpraxis, um ihre Schmerzen zu lindern. Beim Erzählen wirkt sie jedoch so lebendig , dass man sich diese Phasen im Winter schwer vorstellen kann. Nirit lacht viel, ihre Stimmung ändert sich aber auch schnell. Wenn sie etwas bedrückt, wechselt sie gekonnt das Thema. Eine Fähigkeit, die man als Touristenführerin in Berlin wohl perfektionieren muss.

Nirit

Nirit Ben Joseph / Foto: Sonja Koller

 

Kaum jemand kennt die jüdische Geschichte Prenzlauer Bergs so gut wie Nirit

In Berlin kennt sie jeden Stolperstein. Sie war die Erste, die in der Stadt Führungen auf Hebräisch anbot – heute auch regelmäßig für Mitglieder der israelischen Botschaft. Die Pandemie trifft sie finanziell trotzdem hart: Sie führt nun kaum Israelis, sondern vor allem Einheimische, die ihre Stadt aus einer anderen Perspektive kennenlernen wollen. In den letzten Wochen waren ihre Chorleiter dabei, viele Freunde und solche, die auf den Touren zu welchen werden. Nirit kennt ihren Kiez in Prenzlauer Berg und die Leute gut, winkt auf der Straße immer wieder Bekannten zu und spricht Fremde an. Dann zeigt sie während des Gesprächs auf die Gethsemanekirche und erzählt von der Frau eines Pfarrers, die hier ein jüdisches Geschwisterpaar versteckt haben soll. Ralph und Rita Neumann wurden von Agnes Wendland erst als Haushaltshilfen angestellt und konnten später im Pfarrhaus der Gemeinde untertauchen. Ihrem Mann, dem Pfarrer, gegenüber verschwieg Agnes die Identität der Geschwister Neumann. Sie waren zwei von 1.700 Juden, sie sich in den Jahren 1941 bis 1945 in Berlin verstecken mussten und U-Boote genannt werden. Die Geschwister überleben den Krieg in Berlin und immigrieren kurz nach Kriegsende in die USA.

Nur wenige Gehminuten von der Gethsemankirche entfernt befindet sich ein weiterer Ort in Prenzlauer Berg, durch den Nirit Führungen anbietet: Der Jüdische Friedhof an der Schönhauser Allee. Obwohl er viel kleiner ist als der in Weißensee, spielt er trotzdem eine zentrale Rolle in der jüdischen Geschichte Berlins, wie Nirit erzählt, weil hier Größen wie der jüdische Maler Max Liebermann und der Komponist Giacomo Meyerbeer begraben liegen. All das Wissen habe sie sich selbst beigebracht und viel gelesen, sagt Nirit.

 

Die Tour lässt niemanden kalt

Begonnen hat Alles damit, dass sie ihre Tante und ihren Onkel bei einem Besuch durch Berlin führte. „So ein Quatsch“ dachte sie, als die beiden damals vorschlugen, die Touren auch für andere Gäste anzubieten. Heute kennt sich die Israelin mit der deutschen Geschichte besser aus als viele Deutschen und bietet 16 verschiedene Touren an. Sie tragen Namen wie „Die letzten Tage des 2. Weltkriegs in Berlin“, „Die doppelte Emanzipation jüdischer Frauen in Deutschland“, „die Mendelssohn´s in Berlin“ „Albert Einstein“ und „Die U-Boote“. Am schockiertesten seien die Gäste bei der Tour durch das bayrische Viertel in Schöneberg, erzählt Nirit. Die 80 Tafeln, auf denen dort auf antisemitische Maßnahmen hingewiesen wird, lassen niemanden kalt. Etwa steht dort ein Schild, auf dem auf das im Juli 1938 verabschiedete Gesetz hingewiesen wird, dass jüdische Ärzte nicht mehr praktizieren dürfen. Auch stößt man auf die Vorschrift, dass jüdische Kinder keine öffentlichen Schulen mehr besuchen dürfen, die 1938 in Kraft trat. Darunter der Satz „Verbot jeglichen Schulbesuchs“, der mit dem Datum 20. Juni 1942 versehen ist.

Manche der Gäste lasse das regelrecht traumatisiert zurück, schildert Nirit. Eindrucksvolle Erlebnisse mit Gästen erlebt sie wöchentlich. Manche erzählen ihr die privatesten Details, manche haben ein verschobenes Bild von Berlin heute, von der Welt in der Nirit wohnt. Ihre liebste Geschichte: Zwei Gäste wollten Neonazis sehen. Auf welcher Route die liegen? „Die Fütterung haben wir leider verpasst, jetzt sind sie wieder im Käfig“ sagt Nirit und lacht. Die heutige Führung verlief ohne Zwischenfälle wie diesem. Nirit schließt die Führung vor der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße unter Applaus. Bis zum Schluss hören alle Teilnehmer*innen ihr aufmerksam zu, jetzt kommen gleich mehrere auf Nirit zu, um noch eine ihrer Führungen zu buchen.

 

Text & Fotos: Sonja Koller

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