Er kam spät und eher zufällig zur Straßenmusik: Seit nunmehr 18 Jahren steht Horst Bölsdorf vor den Arcaden in der Schönhauser Allee und kurbelt stundenlang an seiner Drehorgel.
Horst Bölsdorf sitzt in seinem Köpenicker Wohnzimmer im fünften Stock an einem Tisch und vergleicht das Spielen seines Instruments mit dem Rezitieren eines Gedichts. „Man kann ein Gedicht mit Betonung vortragen oder einfach herunterleiern“, sagt er. Wenn man die Musik kennt, erzählt der 79-Jährige, spielt man auch gut. Es leiert nicht. Und wenn man dazu noch mitsingen kann, kann auch die Geschwindigkeit nicht falsch sein. Deshalb spielt er eher Drehorgel als Leierkasten. Er kennt die Musik und kann sie auch mitsingen. Aber um jeder Kritik die Grundlage zu nehmen, nennt er sich trotzdem berlinerisch Leierkastenmann. Diese Bezeichnung ist den Berliner*innen eh geläufiger.
Er ist ja selbst ein Berliner. Geboren wird Horst Bölsdorf 1943 in Kreuzberg. Es herrscht Krieg und Mutter und Sohn müssen sich in Sicherheit bringen, bloß weg aus Berlin und den Bombennächten. Sie ziehen zu den Großeltern nach Köthen in Sachsen-Anhalt, der Vater kommt nach Kriegsende dazu. 1956 wechseln die Eltern in ein möbliertes Zimmer in Karl-Marx-Stadt, ins heutige Chemnitz. Nach der 8. Klasse beendet Horst die Schule und beginnt eine Lehre als Elektroinstallateur.
Da spielt die Musik schon längst eine wichtige Rolle in seinem Leben. Aber erst Jahrzehnte später wird er zum Straßenmusikanten im Prenzlauer Berg. Dass er hier mehrere Stunden lang spielen darf, hat ihm das Bezirksamt ausnahmsweise erlaubt, denn er steht an einem historischen Ort: An dieser Stelle baute die Familie Bacigalupo bis 1975 Orgeln. Und so kurbelt der 79-Jährige jeden Donnerstag an dem Schwungrad, kennt jedes Stück seines Repertoires auswendig und dreht im richtigen Tempo. Denn die Musikalität wurde ihm von der Familie mitgegeben.
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Einstieg als Beckenschläger
Horst Bölsdorfs Großvater ist Erster Trompeter am Stadttheater in Köthen, sein Vater spielt Klavier, Schlagzeug und bläst Tenorhorn. Alle Instrumente hatte die Familie auch zu Hause, denn der Vater spielt in zwei Kapellen und fährt über die Dörfer, um Musik zu machen. Horst ist noch zu klein und darf nicht mit. „Aber ich hatte Ohren und ein Fahrrad“, erzählt er schmunzelnd in seinem Wohnzimmer. So lauscht der kleine Junge, wenn der Vater erzählt, wo es demnächst hingeht. Er fährt dann mit dem Fahrrad hinterher, sitzt hinten auf der Bühne und hört der Musik zu. Eines Tages fehlt ein Beckenschläger bei der Marschmusik. Was nun? Horst Bölsdorf ist damals erst 12 Jahre alt und sagt nur: „Na, dann mach’ ich das.“ So kommt er zu seinem ersten Einsatz in einem Orchester. Und die Musik lässt ihn nie wieder los.
Zum Beruf wird die Musik jedoch nicht. Nach seiner Lehre will er unbedingt die Mittlere Reife an der Abendschule nachholen. Aus zwei werden vier Jahre Abendschule, aus dem Realschulabschluss wird Abitur. Er will Berufsschullehrer werden und schreibt sich an der Technischen Hochschule in Karl-Marx-Stadt ein. Und auch hier holt ihn wieder die Musik ein, als er nach einem Abendseminar aus einem Gebäude Blasmusik hört. Er folgt ihr, steht irgendwann an der leicht geöffneten Tür im Blickfeld des Dirigenten und hört zu.
Wenig später spielt er den Part des Waldhorns in diesem Orchester, allerdings auf einem leichter zu spielenden Althorn. Im dritten Semester wird festgestellt, dass seine Stimmlippen zusammengewachsen sind und niemand weiß, ob seine Stimme den Beruf des Lehrers aushält. Ein Rückschlag. Er muss aufhören – mit dem Studium und dem Orchester. Was nun? Seine Freundin ist mit dem ersten Kind schwanger.
Schicksalsschläge und Umbrüche
Der 79-Jährige erzählt davon ohne Gram. Es gilt, die Umstände anzunehmen und eine andere Lösung zu finden. Also studiert er in Magdeburg weiter und wird nicht Berufsschullehrer für Elektrotechnik, sondern Elektro-Ingenieur. Nach dem Studium findet er einen Job in Rathenow, sein Sohn wird 1970 geboren, die Tochter ein Jahr später, er heiratet. Alles scheint gut – Beruf, Familie, Hobbies. Doch dann lässt sich seine Frau scheiden. Horst Bölsdorf ist noch keine 30 Jahre alt und erleidet einen Rückschlag, mit dem er nicht allein fertig wird. Eine Weile verbringt er in der Psychiatrie. Danach lässt er alles hinter sich und geht nach Berlin.
Der noch junge Mann fängt ganz neu an. Er bewirbt sich beim VEB Wohnungskombinat Lichtenberg, bekommt den Job und dazu ein Zimmer im Arbeiterwohnheim. Er qualifiziert sich stetig weiter und steigt beruflich auf, bis er 1980 mit einer Elektrofirma in Karlshorst den Schritt in die Selbstständigkeit wagt und nach Marzahn zieht. Jetzt, mit fast 80 Jahren, erzählt Horst Bölsdorf seinen Werdegang mit sichtbarem Stolz. Denn stets sei er wieder aufgestanden, wenn er hingefallen war, erzählt er. Und er steht auch auf, als sich sein Leben, wieder einmal, mit der politischen Wende 1989 ändert. Immer mehr Firmen aus Westdeutschland dominieren den Markt, es wird schwierig, Aufträge zu bekommen, Rechnungen werden gar nicht oder zu spät gezahlt. 1994 muss Bölsdorf seine Firma schließen.
Bis 2003 hangelt er sich mit zeitlich begrenzten Arbeitsverträgen als Lehrausbilder für angehende Elektriker durch das Arbeitsleben. Dann ist er arbeitslos, Hartz IV droht. Für Bölsdorf ist das keine Option. Er ist zwar über 60, aber nun muss er sich etwas überlegen. Also wird ihm über das Arbeitsamt ein Lehrgang angeboten: Wie mache ich mich selbstständig? Man glaubt dem 79-Jährigen, wenn er heute seine Reaktion darauf beschreibt, die pragmatisch, hoffnungsfroh und knapp ausfällt: „Mache ich mit.“ Und als die Firma als Bedingung ein Konzept verlangt, sagt er: „Konzept hab ich.“ Kleintransporte mit dem vorhandenen Wagen, und der Verkauf von selbst gebauten Schwedenfackeln. Um sie besser anzupreisen, will er im Feuerschein Drehorgel spielen. Der Chef ist begeistert und sagt: „Sie kommen nach dem Lehrgang mit der Drehorgel und spielen.“ Da besitzt Horst Bölsdorf noch nicht einmal eine.
Bei Orgelbau Stüber in Biesdorf leiht er sich eine für ein Wochenende. Am Freitag spielt er vor dem gesamten Lehrgang–und weil er das Instrument erst Montag wieder abgeben muss, fährt er danach zur Frankfurter Allee und will wissen, wie es bei den Menschen auf der Straße ankommt. In den ein bis zwei Stunden passiert wenig. Sonnabend probiert er es noch einmal, es läuft besser. Am Montag gibt er die Drehorgel nicht zurück, sondern kauft sie für 3000 Euro. Mit dabei: Fünf Rollen Musik. Der Drehorgelspieler Horst Bölsdorf ist geboren, er ist nun Straßenmusikant.
Kein echter Affe mehr
Anfangs spielt er fünf- bis sechsmal in der Woche, dazu auf Geburtstagen, in Alten- und Pflegeheimen, in Kindergärten. Im Laufe der Zeit investiert er in weitere Musikrollen und erstellt eigene Programme, damit er nicht immer dieselbe Musik spielt, „sonst bekomme ich irgendwann selber eine Macke“, sagt er. Jeden Donnerstag seit nunmehr 18 Jahren steht Horst Bölsdorf vor dem Einkaufscenter in der Schönhauser Allee und dreht an seiner Orgel.
Er gleicht einem Gentleman in seinem langen, dunklen Mantel, aus dem ein weißer Kragen hervorschaut, auf dem Kopf trägt er eine Melone – einen runden, steifen Herrenhut – und sieht dem Schlumpf-Vater Abraham zum Verwechseln ähnlich. Auf der Drehorgel steht ein Schälchen für die Münzen, der typische Affe sitzt daneben. Zu früheren Zeiten hatte ein echtes Äffchen mit einem Hut Geld eingesammelt. Heute erinnert nur noch ein Plüschtier an diese Zeit.
Mittlerweile nimmt der 79-Jährige keine Aufträge für Geburtstage mehr an. Ansonsten hat er einen festen Wochenplan: dienstags orgelt er in der Schloßstraße in Steglitz, mittwochs in Zehlendorf und donnerstags in der Schönhauser Allee. Dabei hat er einen Grundsatz: Mindestens 10 Euro müssen in einer Stunde in der Münzschale liegen. Er will ja schließlich weiter investieren. Morgen steht er auf jeden Fall wieder auf der Schönhauser Allee – egal, ob das Wetter gut oder schlecht ist. Es soll ein grauer und regnerischer Donnerstag werden. Horst Bölsdorf nimmt sich einfach einen Schirm mit.
Titelbild: Horst Bölsdorf steht bei Wind und Wetter mit seiner Drehorgel vor den Schönhauser Allee Arcaden / Foto: Peter Schulz