Ingrid Meineke wohnt seit über acht Jahrzehnten in derselben Wohnung in der Carl-Legien-Siedlung. Vermutlich hat kaum jemand so viel im Kiez erlebt wie sie.
„Ich weiß noch, in meinem Nachbarhaus wohnten zwei alte Fräuleins. Welche von der ganz schlimmen Seite. Die haben aufgepasst, was in der Siedlung los war und das notfalls auch gemeldet. Da haben die mal meine Mama angezeigt“, erzählt Ingrid Meineke. Der Grund: Regelmäßig kam ein Mann zu Besuch. Groß und stattlich war er, trug immer einen Homburger Hut. Scheinbar zu auffällig für die Carl-Legien-Siedlung zu DDR-Zeiten. Die beiden Fräuleins hielten ihn für einen Mann aus West-Berlin und nicht gut für die Erziehung des Kindes. Tatsächlich musste ihre Mutter dann vor Gericht. „Meine Mama hat, da habe ich ein ganz zartes Mundwerk dagegen, damals gesagt: ‚Solange die Männer nicht Schlange bei mir anstehen die Treppe runter, da hat kein Mensch Grund sich aufzuregen’“, erzählt Meineke lachend. Vor allem auch, weil der Mann später ihr Stiefvater geworden ist und auch dort gewohnt hat.
Die von den Architekten Bruno Taut und Franz Hillinger geschaffene Siedlung existiert auch heute noch. Sie liegt im Nordosten von Prenzlauer Berg – zwischen Georg-Blank-Straße, Gubitzstraße, Küselstraße, Sültstraße und dem Lindenhoekweg. 1.149 Wohnheiten verteilen sich auf dem Gebiet. Zusammen bilden sie sechs lange u-förmige Blöcke, zwischen denen begrünte Innenhöfe liegen. Die Wände sind in jedem Hof in einer anderen Farbe gestrichen. Auch die Türen- und Fensterrahmen strahlen mal rot, mal blau, mal gelb. Fertiggestellt wurde die Siedlung 1930. Zehn Jahre später zog Ingrid Meineke mit ihren Eltern dort ein. Nicht einmal ein Jahr alt war sie da. Über acht Jahrzehnte später wohnt sie noch immer auf denselben 55,8 Quadratmetern. Mittlerweile allein. Sie nutzt noch immer dieselben Türen, sie läuft dieselben Treppen hoch und runter, sie geht durch denselben Kiez. Ein Leben lang verbindet Ingrid Meineke und die Carl-Legien-Siedlung.
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Highlight Balkon
Tatsächlich trägt sie überall ein Bild mit sich herum, auf dem ihre Mutter auf dem Balkon ihrer heutigen Wohnung sitzt und Baby Ingrid in den Armen hält. An den Seiten ist es schon leicht eingerissen und zerknittert. Dennoch scheint es ein großer Schatz für sie zu sein. Ihre Mutter hatte die Wohnungen mit den großen Balkonen schon vor dem Einzug immer bewundert. Irgendwann hat eine Hauswartin ihr einen Tipp gegeben, dass eine Wohnung frei sei. Ihre Mutter stürmte gleich los – mit Erfolg.
Später in der DDR sei kein normaler Mensch mehr an so eine Wohnung gekommen. Das sei Luxus gewesen. „Dann sind Sie da bloß rangekommen, wenn Sie in der Partei waren oder Bonzen kannten“, sagt sie. Heute sieht das ähnlich aus. „Ich habe noch Glück mit der Wohnung durch den alten Mietvertrag. Ich zahle jetzt knapp 570 Euro. In der DDR war meine letzte Miete 60 Mark und 50 Pfennig.“ Bei so einer Wohnung und dem Preis ziehe niemand freiwillig aus, sagt Meineke.
Ingrid Meineke kennt ihren Kiez
Und so hat Ingrid Meineke dort den Zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit, den Mauerbau und den Mauerfall, die Sanierung der Siedlung, die Ernennung der Siedlung zum UNESCO-Weltkulturerbe im Jahr 2008 und zuletzt die Diskussion um zwei Bäume in der Gubtzstraße erlebt. Selbst als sie mit 22 Jahren noch einmal eine Ausbildung zur Optikerin in Jena angefangen hat, kam sie jedes Wochenende zurück. Auch als schließlich ihr Haus 2004 saniert wurde, hat sie nicht weit entfernt in einer Übergangswohnung gelebt. Die Geschichte des Kiezes gehört zu Ingrid Meinekes Lebensgeschichte. Und irgendwie ist Meineke selbst ein Teil der Kiezgeschichte.
Als kleines Mädchen turnte sie mit den Kindern aus der Nachbarschaft an den Klopfstangen für Teppiche im Hof herum, spielte vor der Haustüre Hopse oder Murmeln. An der Ecke zur Erich-Weinert-Straße bekam sie ihre Schuhe für die Einschulung. Echt Leder. Darauf sei sie sehr stolz gewesen, erzählt sie. In der Nachkriegszeit legten die Nachbar*innen in den Höfen kleine Gärten an, um sich versorgen zu können. In der Sodtkestraße lebte eine Zeit lang der Schauspieler Horst Buchholz. Da wo sich heute ein Frisör befindet, gab es früher eine Fleischerei.
Direkt daneben befindet sich heute ein Café. Früher war das ein Laden, in dem sie immer ihre Schulhefte kaufte. „Durch die Menschen an der Ecke habe ich meinen Operntick gekriegt. Die sind schuld“, sagt sie und gluckst vor sich. Irgendwann als sie 16 oder 17 Jahre alt war, haben die ihr eine Karte für die Oper geschenkt. Da habe so ein toller Tenor gesungen, erzählt sie, dass sie danach hin und weg gewesen sei.
Der Mann war weg, aber die Opern sind geblieben
Dieser Operntick sei auch Schuld daran, dass sie immer alleinstehend war. Zumindest sagen das ihre Freund*innen, erzählt Meineke und lacht. Im Urlaub in Bulgarien hat sie mal jemanden kennengelernt: „Hübsches Kerlchen. Wenn da nicht die politischen Verhältnisse gewesen, wären wir wahrscheinlich verheiratet gewesen.“ Sie habe dann aber nach zwei oder drei Jahren Schluss gemacht, sagt sie. „Ich habe mich zur Ordnung gerufen. Ich wäre nicht rausgekommen aus der DDR. Der hätte das fertig gekriegt und wäre meinetwegen umgesiedelt. Aber das wäre nicht gut gegangen. Ein Ur-Österreicher wäre unter den politischen Verhältnissen in der DDR nicht glücklich geworden.“ Das sei schade gewesen, aber sie habe auch so genug erlebt – vor allem mit ihrer Opern-Tuppe oder ihren zahlreichen Reisen nach Prag.
Immer wieder macht sie Witze über ihr Alter, bezeichnet sich als ollig. Dabei entspricht sie überhaupt nicht dem Klischee einer alten Frau. Meineke hat ständig etwas vor. Ausgangspunkt ist dabei immer die Carl-Legien-Siedlung. Mal fährt sie von dort zum Geburtstag einer Freundin zum Platz der Luftbrücke, dann trifft sie eine Freundin aus Hermsdorf oder sie besucht eine ihrer Cousinen in Rudow oder Wittenau. Allein im Dezember hat sie noch zwei Opern- und zwei Konzerttickets. Im Januar fährt sie für einen Ausflug mit dem Richard-Wagner-Verein nach Leipzig. Spätestens im Frühjahr soll es wieder nach Prag gehen, Freund*innen besuchen.
Als sie vor ihrer Haustür eine Nachbarin trifft und die ihr Ratschläge gibt, damit sie bloß nicht hinfällt, winkt Ingrid Meineke ab. Sie müsse trainieren, sagt sie. Sie wandere heute noch quer durch Berlin. Mit den Nachbar*innen in ihrem Haus hat sie ein gutes Verhältnis. Das sei eigentlich immer so gewesen. So schlimme wie die alten Fräuleins aus dem Nachbarhaus gebe es nicht mehr.
Titelfoto: Ingrid Meineke wohnt ihr Leben lang in der Carl-Legien-Siedlung. / Foto: Christina Heuschen