Samisdat

Freiraum ohne Freiheit

von Katharina Angus 30. Juli 2021

In der DDR boten die „Samisdat“-Zeitschriften in Prenzlauer Berg ein großes Experimentierfeld. Doch der Stasi waren die im Eigenverlag herausgebrachten Zeitschriften ein Dorn im Auge.


Auf Eierkartons oder Pappe, in Stückzahl von zehn oder neunundneunzig, aber immer mit einer Mischung aus Literatur und Bildkunst: In Prenzlauer Berg entstanden in den Achtziger Jahren einige ungewöhnliche Zeitschriften. Verlegt wurden sie im „Samisdat“. Damit waren sie mehr als nur bibliophile Sammlerstücke.

„In der Szene des ‚Samisdat‘ verschmolzen Literatur und andere künstlerische Ausdrucksformen, Avantgarden und Lebensstile sehr stark miteinander. Alles wurde zum Experimentierfeld für ein neues, anderes Lebens und eine tragfähige Identität. Der Prenzlauer Berg als solcher war eigentlich ein großer Kunstraum, eine einzige Installation. Ein Stück Freiraum ohne wirkliche Freiheit“, sagt Ines Geipel, die Schriftstellerin und Publizistin, die gemeinsam mit Joachim Walter das Archiv unterdrückter Literatur in der DDR gegründet hat.

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„Samisdat“ und die UDSSR

Ursprünglich kommt der Begriff „Samisdat“ aus dem Russischen und bedeutet „im Eigenverlag“. Er bezieht sich auf die Verbreitung verbotener oder unerwünschter Texte und stammt aus der UDSSR. Daher sieht Lukas Regeler den Begriff in Bezug auf die Szene in Berlin kritisch. Der wissenschaftliche Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Writing Berlin“ des Exzellenzclusters „Temporal Communities“ forscht in seiner Dissertation „kunst im biotop“ unter anderem zu den Untergrund-Zeitschriften in Prenzlauer Berg. Er sagt: „Der ‚Samisdat‘-Begriff verweist direkt auf inoffizielle Literatur dieser Art in der CSSR und anderen osteuropäischen Ländern. Dort waren die entstandenen Texte aber meist sehr aktivistisch geprägt, was sich mit der Literatur in Prenzlauer Berg größtenteils anders verhielt. Hier ging es stärker um theoretische Reflexion und Ästhetik.“

Tatsächlich bewegten sich die betreffenden Zeitschriften, darunter „Entwerter Oder“, „Mikado“ oder „Schaden“, in der Grauzone der inoffiziellen, aber nicht illegalen Medien. Hierbei spielte die Auflagenstärke eine entscheidende Rolle. Denn Veröffentlichungen, die unter einer Auflage von 100 blieben und einen bildkünstlerischen Schwerpunkt nachweisen konnten, wurden von der unmittelbaren staatlichen Zensur verschont.

In Prenzlauer Berg erschienen schließlich 1979 erste Grafik-Lyrik Mappen. Sie legten den Grundstein für eine neue Art zu publizieren. „Man muss sich das so vorstellen, dass zum Beispiel fünfzehn Autor*innen ihre Gedichte in fünfzehnfacher Ausfertigung beisteuerten. Sie wurden zusammengeheftet, jede*r Beiträger*in erhielt eine Ausgabe und konnte diese dann im Freundeskreis zirkulieren lassen“, erklärt Regeler.

Manche dieser Ausgaben fanden sogar ihren Weg über die Mauer. „Einige der Abonent*innen saßen in West-Berlin, was durch den Umrechnungskurs gute Einkünfte gebracht und die Grundlage für die Herstellung weiterer Ausgaben geschaffen hat“, erinnert sich Heike Willingham, die Autorin und spätere Mitherausgeberin der 1984 in Prenzlauer Berg gegründeten „Samisdat“-Zeitschrift „Schaden“.

 

Mitarbeit nicht ohne Risiken

Obgleich die Zeitschriften nicht verboten waren, ging eine Mitarbeit mit erheblichen Risiken einher. „Mit jeder Aktion, mit jedem Satz, mit jedem Wort war klar: Das kann richtig eng werden. Heute haben wir uns in der Erzählung eingerichtet, dass die Zensur im Osten ab den 70er Jahren nicht mehr so streng war. Aber das ist falsch. Die staatliche Zensur modifizierte sich je nach Zustand der DDR, aber von der Struktur her blieb sie konstant und galt bis zum letzten Tag. Man konnte noch im Oktober 1989 für die eigenen Texte ins Zuchthaus kommen.

Das gilt natürlich auch für die ‚Samisdat‘-Szene“, erläutert Geipel. Eine Diktatur behandele das Wort immer extrem. „Obgleich auf alle künstlerischen Medien Druck ausgeübt wurde, war die Not für die Sprache am größten. Man konnte im Bild oder in der Musik schlicht „weichere“ Zeichen setzen – das Wort wurde aus allen Perspektiven heraus umfassend observiert“, sagt Geipel.

Ines Geipel / Foto: Amac Garbe

 

Diese permanenten Gefahrensituationen brachten sogar neue literarische Stile hervor, die mit Anspielungen zwischen den Zeilen arbeiteten. „Die Autor*innen benutzen eine Sprache, die sich durch Mehrdeutigkeit auszeichnete. So haben sich in der Literatur in Prenzlauer Berg bestimmte Sprachformen entwickelt, die u.a. auf Klandestinität beruhten“, so Willingham. Regeler beschreibt diesen Prozess als Rückzug ins Ästhetische. „Was nicht bedeutet, dass nicht auch dieser Rückzug ein politisches Statement war“, sagt er.

Willingham betont jedoch, dass Politik an sich kein Schwerpunkt-Thema der Zeitschrift Schaden war. Diese Einstellung habe eine Konzentration auf die künstlerischen Aspekte des Projekts bewirkt. „Für mich war es damals eine unglaublich erfrischende Tätigkeit; Prozesse selber bestimmen zu können, in einer gesellschaftlichen Situation, die von Stagnation und Lähmung geprägt war. Die letzten Jahre vor der Wende waren keine lebendigen Jahre und wohin sich das entwickeln sollte, war nicht absehbar.“

 

Unterwandert

Die wenigsten der Autor*innen dürften jedoch geahnt haben, wieviel Arbeit die Stasi aufbot, um diese Prozesse zu lenken. Denn in den 1980er Jahren setzte die sie verstärkt auf gezielte Unterwanderung kritischer Gruppierungen, um diese zu schwächen oder zu zersetzen. Eines der bekanntesten Beispiele für diese Strategie ist Sascha Anderson. Anderson bewegte sich damals in der alternativen Künstlerszene in Prenzlauer Berg und war zu Anfang sogar Herausgeber der Zeitschrift „Schaden“. Im Jahr 1986 reiste er schließlich in die BRD aus. Erst in den 90er Jahren wurde er als Stasi-Mitarbeiter enttarnt.

„Sascha Anderson war kein einfacher IM, sondern quasi fester Angestellter der Stasi und ist eigentlich erst über diese Tätigkeit zur Künstler*innenszene in Prenzlauer Berg gekommen. Das ist schon bemerkenswert“, erklärt Regeler. In der Redaktion des „Schaden“ und anderen Zusammenhängen habe Anderson versucht, die Szene so unpolitisch wie möglich zu halten: „Es hat Ansätze zu politischerem Handeln gegeben, beispielsweise auf der ‚Zersammlung‘ 1984. Das war eine Lesewoche in Prenzlauer Berg, in deren Verlauf einige Autor*innen anregten, einen inoffiziellen Schriftstellerverband zu gründen. Dieses Vorhaben wurde vor allem von Sascha Anderson effektiv abgewendet.“

Der Skandal um Anderson und andere, die wie er gezielt inoffizielle Projekte unterwanderten, die Faszination für Prenzlauer Berg und die Tatsache, dass laut Regeler dies der Berliner Stadtteil mit der höchsten Dichte konspirativer Wohnungen, also Stasistützpunkten, war, hatte Folgen. So wurde nach der Wende von den im „Samisdat“ erschienenen Zeitschriften auch schon einmal vom „Schrebergarten der Stasi“ gesprochen. „Was die Literatur angeht, ist Prenzlauer Berg zu einem quasi mythischen Ort geworden. Dabei ist vieles nach 1989 überlagert vom Skandal um Sascha Anderson. Das hat die Rezeption dieses großartigen Entwurfs ungemein behindert“, findet Geipel.

Sie bedauert die Vereinnahmung der Projekte, die sogar im Nachhinein noch durch den Stasi-Einfluss in der öffentlichen Wahrnehmung erfolgt. Für zahlreiche Künstler*innen war  die Möglichkeit, sich fernab der staatlichen Organe auszudrücken und ausprobieren zu können, ungeachtet der Hintergründe, ein bedeutender Einstieg in ihre eigene Tätigkeit. „Auf mich hatte die Zeit beim Schaden einen wichtigen Einfluss. Ich war sehr jung und hatte mit dem Schreiben erst begonnen. Die Auseinandersetzung und Rezeption von Autor*innen in Prenzlauer Berg, wo eine ganz besondere lyrische Ästhetik, Sprachspiel, Kleinschreibung, etc., geherrscht hat, war sehr produktiv. Es war eine konstruktive Phase, in der ich viel Unterstützung erfahren habe“, sagt Willingham heute.

 

Frauen als Objekte oder Akteurinnen?

Die Autorin und Herausgeberin kam erst zum „Schaden“, als Anderson sich bereits in die BRD abgesetzt hatte. Denn dieser habe nie eine Frau in die Redaktion geholt. „Die Szene war stark männlich geprägt. Manche Herausgeber, wie Egmont Hesse oder Andreas Koziol waren allerdings Ausnahmen und haben sich auch um die Einbeziehung von Autorinnen bemüht.“

Ein Blick in die betreffenden Zeitschriften zeigt, dass Frauen eher in der künstlerischen Gestaltung, als Grafikerinnen, Zeichnerinnen oder Fotografinnen zu finden sind, anstatt als Urheberinnen von Texten. Zu den wenigen Namen gehören unter anderem Raja Lubinetzki und Elke Erb.

„Inoffizielle Projekte, wie die ‚Samisdat‘-Zeitschriften, waren mit hohen Risiken verbunden. In der DDR hatten die meisten Frauen früh Kinder, was viel Kraft raubte und weniger Kapazitäten für Projekte außerhalb der gesellschaftlichen Norm übrig ließ. Insbesondere in Berlin war die Situation brisant, weil hier die Beobachtung der Jugendszene durch den Staat stark ausgeprägt war“, vermutet Willingham.

Auch wenn erwähnt werde, dass die DDR frauenpolitisch fortschrittlich gewesen sei, seien viele Frauen einer doppelten Belastung ausgesetzt gewesen, erklärt Regeler. „Einerseits wurde erwartet, dass sie sich aktiv am Berufsleben beteiligen, anderseits waren sie mit einem herkömmlichen Geschlechterbild konfrontiert, das Familie und Haushalt weiterhin als Aufgabenbereich der Frau ansah. Zudem war die DDR an nahezu allen entscheidenden Stellen ein Männerverein. Man fand unter den einflussreichen Personen nur vereinzelt Frauen. So leitete Anna Seghers beispielsweise als Präsidentin den Deutschen Schriftstellerverband der DDR, doch die Funktionäre, die hauptsächlich die Fäden zogen, waren Männer.“

Geipel glaubt, dass die Autorenschaft jener Zeit in Prenzlauer Berg einfach zu männlich, traditionell und von einer gewissen Hybris umgeben war. „Für weibliche Autor*innen lagen die Hürden um Längen höher. Sie hatten andere Stoffe, andere Themen, lebten eine andere Realität, zu der die Attitüde des solitären Denkerdichters nicht recht passte“, sagt sie.

Und so strahlte das patriarchale System der DDR nicht nur auf die Teilhabe sondern auch auch auf die Inhalte der inoffiziellen Projekte aus. „In vielen Texten der ‚Samisdat‘-Zeitschriften in Prenzlauer Berg wird ein Männlichkeitsideal zelebriert. Frauen haben darin zum Großteil lediglich als Musen oder Sexualobjekte einen Platz“, sagt Regeler.
Trotz dieses überholten Frauenbildes, das sich in zahlreichen Werken niedergeschlagen hat, war die inoffizielle Autor*innenszene in Prenzlauer Berg für ihre Begeisterung für die Avantgarde bekannt.

„Wenn man nach Vorzeichen für ein Ende der DDR in der inoffiziellen Literatur sucht, lassen sie sich am ehesten an neuen ästhetischen Ansätzen erkennen, vor allem dem Mut zum experimentellen Schreiben“, findet Regeler. Neben solchen neuen Ausdrucksformen gehörte die Auseinandersetzung mit vergangenen sowie in der DDR geächteten Autor*innen zum Umfeld der „Samisdat“-Szene.

 

Tradition und Aufbruch

„Beispielsweise hat man sich sehr für die Frühromantik interessiert – für Günderode, Schlegel, die ersten Lebenskommunen und die Idee, dass Kunst und Leben eins seien. Diese Idee hat man versucht, neu zu initiieren. Auch die klassische Moderne rückte in den Fokus. Die Autorin Jutta Petzold hat einst Else Lasker-Schüler, die in der DDR früh verfemt war, mit der Hand abgeschrieben“, erzählt Geipel.

Die verschiedenen Einflüsse machen die Zeitschriften zu einem lebendigen Zeitdokument. „Man spürt, was für ein Druck unter der Sprache liegt und wie ganz neue Fragen aufkommen. In den „Samisdat“-Zeitschriften steckt der Moment des Aufbruchs, der kategorischen Öffnung oder auch: In den Texten brennt immer ein bisschen die Luft.“

Trotz dieser Aufbruchstimmung sind die wenigsten der Autor*innen, die in den „Samisdat“-Zeitschriften in Prenzlauer Berg veröffentlicht haben, nach der Wende bekannt geworden oder Schriftsteller*innen geblieben. Denn war es in der DDR bereits schwer gewesen, den eigenen künstlerischen Weg zu behaupten, so wurde der Aufbruch in eine neue Ära für viele zur Sackgasse. Doch ihr Erbe lebt in den kunstvollen und mutigen Experimenten der Magazine weiter.

Titelbild: Heike Willingham

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