Ost-Berlin

„Im Osten roch es nach Gummi und Staub“

von Julia Schmitz 20. Mai 2019

Welches Flair hatte Ost-Berlin? 30 Jahre nach Friedlicher Revolution und Mauerfall erkundet ein essayistischer Sammelband die „verschwundene Stadt“. Prenzlauer Berg spielt dabei eine wichtige Rolle.


Ost-Berlin existiert nicht mehr, die Mauer ist seit drei Jahrzehnten Geschichte und die Erzählungen aus der Zeit vor 1989 bekommen mit der Zeit immer stärkere anekdotische Züge. „Wie erinnert man an eine […] ‚verschwundene‘ Stadt, die nach 1990 in mehreren Schüben neu formatiert und von der berauschenden Dynamik der neuen Metropole Berlin förmlich aufgesogen wurde?“ fragt Jürgen Danyel, Herausgeber des Buches „Ost-Berlin. 30 Erkundungen“, in seinem Vorwort. Um eine Antwort zu finden, hat er zahlreiche Autor*innen gebeten, ihre Erinnerungen und Erfahrungen aufzuschreiben – darunter Götz Aly, Marion Brasch, Annett Gröschner, Wolfram Neugebauer und Lea Streisand.

 

Hotspot Prenzlauer Berg

Ihre erfrischend (n)ostalgiefreien Essays spannen den Anekdotenbogen vom Sport- und Erholungszentrum (SEZ) in Friedrichshain und das Café Espresso Unter den Linden, über Kleingärten im Allgemeinen und „Oberschweinöde“ im Speziellen, bis hin zur Schwulenszene und dem Nachtleben in Ost-Berlin. Eine wichtige Rolle spielt dabei immer wieder Prenzlauer Berg:

Wenn von Ost-Berlin in den späten 1970er- und 1980er Jahren als Metropole der ostdeutschen Subkultur die Rede ist, darf natürlich der Prenzlauer Berg mit seiner alternativen Kunst-, Literatur-, Theater-, Musik- und Modeszene nicht fehlen. In ihrer ganzen breite und Vielfalt wurde sie erst nach dem Ende der DDR sichtbar, als sich das öffentliche Interesse und die Fördertöpfe der Aufarbeitung zu Recht auf die sozialen, kulturellen und politischen Gegenentwürfe zum Gesellschaftsbild der SED richteten und damit das holzschnittartige Bild von der durchherrschten DDR aufbrauchen.

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Der Geruch von Westen und Osten

Annette Schuhmann nimmt uns in ihrem Text „MauerKind“ mit in die Gleimstraße, dessen Tunnel nach dem Krieg Ost und West verband – bis der Bau der Berliner Mauer dem Ganzen 1961 ein jähes Ende setzte. Sie erinnert sich an die unterschiedlichen Gerüche:

Der Westen war vor allem ein unglaublich guter Duft: Persil und Lux-Seife, Galetta-Pudding mit dem Aromatropfen, Schogetten, die nach Schokolade rochen, Bohnenkaffee – […] Im Osten dagegen roch alles nach Gummi und Staub, nach regennasser Straße und nach Desinfektionsmittel aus dem Kanister, nach frisch gespitzen Bleistiften und ausgepusteten Kerzen, nach Kohlenanzünder und Fassbrause.

 

Daniela Dahn, Journalistin und Publizistin, steuert einen Abschnitt aus ihrem im Jahr 1987 erschienenen und später zum Kultbuch avancierten Prenzlauer Berg-Tour bei; damals war sie nach Ost-Berlin gereist, um herauszufinden inwiefern es sich bei den Geschichten über den Stadtteil um Legenden handelt und wie sich die Atmosphäre vor Ort tatsächlich anfühlt. Sie beschreibt eine ausgedehnte Tour durch das Nachtleben „auf dem Berg“:

Café Burgfrieden, Schoppenstube und Senefelder sind ein homogenes Feld. Die Offenbachstuben – fast nur Stammgäste. Und nach der Renovierung von Fengler hat sich das dortige Publikum auf verschiedene Cafés verteilt: ins WC, also Wiener Café, Café Mosaik, Café Lila.“

 

32 Jahre später ist das Nachtleben in Prenzlauer Berg auf ein Minimum eingeschrumpft und von den alten Namen nur noch das „Fengler“ existent. Auch Lea Streisand, in den 1980er in der Hufelandstraße aufgewachsen, weiß einiges über die Veränderungen ihres alten Kiezes zu berichten: „Grau-braun-beige war meine Kindheit. Wie ein Retro-Foto-Filter bei Instagram. Heute ist alles pastellfarben durchsaniert.“

Die Kluft zwischen dem Prenzlauer Berg der Vorwendezeit und dem heutigen Lebensgefühl in den Kiezen rund um Helmholtzplatz, Kollwitzplatz und Schönhauser Allee könnte nicht größer sein – um das zu bemerken, braucht es kein Buch. Und dennoch trägt „Ost-Berlin. 30 Erkundungen“ dazu bei, diese in den vergangenen 30 Jahren immer sichtbarer gewordenen Unterschiede nicht nur zu erkennen, sondern auch zu würdigen: Nichts bleibt, wie es war und am Ende haben wir immer noch die Erinnerungen. Dass diese fast gänzlich ohne romantische Verklärung auskommen, ist eine große Stärke dieses Essaybandes.

Jürgen Danyel
„Ost-Berlin. 30 Erkundungen“
C.H. Links Verlag, 2019
Hardcover, 448 Seiten, 25,- Euro

 

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