Meyer

Ein Seismograph des Viertels

von Manuela Stark 19. Januar 2024

Menschen mit der Stadt vereinen, ist die Mission von Carsten Meyer von der Initiative Pro Kiez Bötzowviertel. Wie er sich das vorstellt, zeigt sein Video über eine verbesserte Ampelschaltung der Tram 10.


Es ist winterlich kalt, eine dünne Schneedecke liegt wie eine Zuckerschicht über dem Stierbrunnen am Arnswalder Platz. Ich bin auf dem Weg zu Carsten Meyer, der sich seit vielen Jahren im Bötzow-Kiez engagiert. Meyer ist 73 Jahre alt, sein Haar ist zu einem sauberen Seitenscheitel gekämmt, fast als ob er frisch vom Friseur kommt. Die Haare sind weiß wie Schnee. Selbstironisch äußert er: „Man weiß ja, alten weißen Männern kann man nicht trauen.“

Ihm schon. Carsten Meyer ist äußerst gastfreundlich. Während er in der offenen Küche Kaffee vorbereitet, erzählt er schnell und viel. Es gibt auch einiges über sein ehrenamtliches Engagement in diversen Initiativen zu erzählen. “Es sollte für jeden Menschen erstrebenswert sein, sich sozial zu engagieren”, sagt er. Er selbst arbeitete schon als junger Mann nach dem Abitur in einer ehrenamtlichen Initiative in Bremen mit. Er sei sensibel für Störungen in der Stadt, im sozialen Gefüge, sowie im technischen Ablauf, erzählt er.

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Von Bremen nach Berlin

Der ehemalige Lehrer drückt sich gepflegt aus. Englische Sätze kommen wie selbstverständlich über seine Lippen: „It keep’s you mind flexibel.“ Es ist kein künstlicher Jugend-Slang, sondern Teil seines Wortschatzes. Schon zur Schulzeit ist er Fan von englisch-sprachiger Popmusik. Sein Englisch-Lehrer am Jungen-Gymnasium in Bremen ist ihm ein Vorbild. Eigentlich möchte er Architektur studieren, jedoch rät das Arbeitsamt ab. So wird es Anglistik und Sozialwissenschaften. Als angehender Lehrer lebt er mit Unterbrechung drei Jahre in Großbritannien.

Obwohl er dem Ratschlag des Arbeitsamtes zur Studienwahl folgt, findet er nicht direkt nach dem Abschluss einen Job. Daher arbeitet er erstmal bei der Interessengemeinschaft Bremer Haus zur Denkmalpflege mit – unentgeltlich. So kann er sein Interesse für Architektur doch mit einer Aufgabe verbinden. Auch heute noch reist er häufiger nach Bremen und bringt danach Ideen für die Stadtentwicklung nach Berlin mit.

 

Vorschläge für die Verkehrswende

“Aus Bremen bin ich gewohnt, dass die Bahn durchrauscht.” Wie genau er sich das für die Berliner Tram vorstellt, zeigt sein Video „Tram M10: Im Stop-and-Go zur Verkehrswende“. Sein Vorschlag für eine verbesserte Ampelschaltung entlang der Strecke trifft im Netz auf Resonanz. Auch aus dem Ausland melden sich Personen und bekunden Interesse. Über die Jahre ist Carsten Meyer zum Experten für Stadtentwicklung geworden.

Die Rückmeldungen von Straßenbahnfahrer*innen und Städteplaner*innen aus der Schweiz verdeutlichen ihm das. Es erfüllt ihn mit Stolz, dass das selbstgedrehte Video, Ergebnis wochenlanger Recherchen, Aufnahmen und Zuschneidens, so viele Reaktionen bekommt. In wenigen Tagen haben über 6.000 Menschen das Video angesehen.

„Viele Sachen, die ich mache, sind total stressig. Aber das ist dann wie Basteln. Da tüftle und tüftle ich.” Eine kleine Szene, ein sogenannter Take, kann schon mal zwei Arbeitstage in Anspruch nehmen. Dabei sieht seine Altbauwohnung gar nicht nach Tüftler aus. Eher wie aus einem Architektur-Katalog für gelungene Wohnungssanierung. Hier lebt er seit 2003 mit seinem Lebensgefährten. „Solche Wohnungen gibt es nur in Berlin.”

 

Die Hoffnung bleibt

Seit vielen Jahren wirkt Carsten Meyer bei der Bürger*inneninitiative ProKiez Bötzowviertel e.V. aktiv mit. Die Initiative vertritt die Interessen der Nachbarschaft gegenüber Politik und Verwaltung. Egal ob es um die GartenInitiative vom Arnswalder Platz oder die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse geht. Auch im Jederman-Chor singt er mit.

2024 will er die Mehrweg-“Böcher“, die es bereits seit zwei Jahren gibt, stärker verbreiten. 
Ein ausgeprochenes Herzensprojekt war für ihn die Umgestaltung des Gedenkgartens für Peter Josef Lenné und Gustav Meyer, der im Juni 2022 eröffnet wurde. Bis heute gibt es an den Stelen kein Graffiti. Sensationell, findet Carsten Meyer. Das weckt seine Hoffnung, dass die Menschen bei besonders schönen Dingen doch Respekt haben und sie nicht beschmieren.

Carsten Meyer freut sich besonders über den Gedenkgarten für Peter Josef Lenné und Gustav Meyer. / Foto: Manuela Stark

 

Die sogenannte Alltagsgewöhnung kennt er nicht und wünscht er sich auch nicht. Er reist gerne in andere europäische Städte und fotografiert dort alltägliche Dinge. Wie wird dort der Müll entsorgt? Wie werden Bürger*innen über Baustellen informiert? Ein Vorbild ist für ihn Madrid, das den Verkehr in der Innenstadt reduziert. Oder die Niederlande: “Die sind da krass drauf, was Strafandrohung angeht.” Besonders beeindrucken ihn die neuen Fahrradparkhäuser in Amsterdam.

„Dann komme ich wieder nach Berlin mit einem geschärften Blick für das, was nicht läuft und vielleicht auch das, was gut läuft“, sagt er und lacht wieder. Er sei umweltpolitisch aktiv, habe Veränderungswillen und schöpfe aus Defiziten Kampfbereitschaft und Kraft. Von Wutbürger*innen distanziert er sich aber deutlich. Auf konstruktiven Umgang legt er großen Wert.

 

Trotz Niederlagen im Einsatz

Aber nicht immer sind derartige Initiativen erfolgreich. Es fällt ihm offensichtlich schwer, über die Fällung der Eschen in der Kniprodestraße zu sprechen. Auf die Frage, wie es sich anfühlt, wenn jahrelange Bemühungen ins Leere laufen, muss Carsten Meyer tief durchatmen. „Es ist eine ganz große Enttäuschung und Desillusion mit der Politik entstanden.“

Nach langer und aufreibender Auseinandersetzung mit der Bezirksverwaltung sieht er diese Initiative als gescheitert an. Besonders traurig macht ihn dabei der persönliche Angriff auf seine Person, die seine Intention ins Gegenteil verdreht. Kritisieren sei erlaubt. Aber man solle nicht in diesem Status verharren, sagt er. Lieber vorschlagen, was besser gemacht werden kann, warum und im Idealfall auch wie.

 

Ein Aktivist, der immer weitermacht

So wie in seinem Video. Die neueste Initiative ist seit wenigen Tagen online und zeigt, wie die Fahrzeit der M10 durch eine verbesserte Ampelsteuerung von 35 Minuten um circa 13 Minuten verkürzt werden kann. Dafür müssten an 14 Stellen die Tram Priorität erhalten.

Wie unsicher die Lage für Fußgänger*innen ist, zeigt das Video auch. Während Carsten Meyer in die Kamera spricht, fährt eine Straßenbahn in die Haltestelle ein. Flugs springt noch eine Fußgängerin über die Absperrung, um die Tram zu erreichen.

Carsten Meyer ist Seismograph und Dokumentar der Stadt. Und natürlich auch Fahrrad-Aktivist: „Man muss Rahmenbedingungen schaffen, dass sich Kinder und Ältere sicher auf ihr Fahrrad setzen können. Das ist in Berlin ganz oft nicht der Fall.“ Die Bearbeitung von Videos ist für ihn meditativ und beruhigend, im Gegensatz zu den vielen selbstgewählten Initiativen. Es wird wohl nicht das letzte sein.

 

Titelfoto: Frank Brunhorn

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