Korbmacher

Der Prinz von der Wins

von Peter Schulz 25. Januar 2022

Seit mehr als drei Jahrzehnten arbeitet Fred Jacob in einer Ladenwerkstatt in der Winsstraße. Er ist einer der letzten Korbmacher Berlins. Von einem, der immer wieder aufsteht.


Dies ist ein Text aus unserem Schwerpunkt
„Leute im Kiez“


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Vor dem Laden von Fred Jacob steht eine Frau, holt ihr Smartphone aus der Tasche und macht ein paar Fotos von dem Schaufenster, in dem momentan zwei große, hängende Korbsessel ausgestellt sind. „Da, es wird schon wieder fotografiert“, ruft Jacob, während er von seinem Arbeitsplatz aufsteht und etwas aus der Werkstatt im hinteren Teil des Ladens holen will. Er bleibt kurz stehen, dreht sich um und erklärt mit ausgebreiteten Armen und spitzbübischem Selbstbewusstsein: „Weil ick der Beste bin, weil ick der Prinz bin.“ Schon über dem Schaufenster seines Ladens ist folgende Aufschrift von draußen deutlich zu lesen: „Berlin’s innovativster Korbmachermeister“.

Seit 1984 ist der 61-Jährige selbstständig und betreibt die Ladenwerkstatt in der Winsstraße. Vielleicht redet er deshalb beim Arbeiten. Oder arbeitet beim Reden. Beides mag er gern, aber Zeit ist eben Geld, wenn man ein eigenes Geschäft hat. Gerade sitzt er im wahrsten Sinne des Wortes an einem Auftrag, flicht einen Hocker mit Peddigrohr, aus dem Mark der Rattanpalme gewonnene lianenartige Stränge, aus. Er ist vier bis fünf Monate im Voraus ausgebucht. Ein wenig Kunst hatte er ab und zu auch noch gemacht, aber es bleibt seit drei Jahren einfach keine Zeit mehr dafür. Wenn man ihn fragt, was sich beruflich während der Corona-Zeit geändert hat, dann sieht er einen etwas ungläubig an und sagt: „Ja nix, hat sich jar nüscht jeändert.“ Eher hatte er mehr Aufträge, die Kunden waren dankbarer, schätzen wieder die Kunst des Handwerks. Fred Jacob drückt es so aus: „Weil noch einer in seinem Leben jearbeitet und nich nur zu Hause jesessen hat.“

1984, mit gerade einmal 24 Jahren, übernimmt er den 1952 gegründeten Laden eines anderen Korbmachers und beginnt ein Jahr später die Meisterschule. Prompt muss er, die Theorie hatte er schon abgeschlossen, pausieren, um für eineinhalb Jahre die Armee-Zeit abzuleisten. „Da hab ick schön euern Arsch jerettet, alle Ostler hab ick beschützt, dass se in Ruhe schlafen konnten“, sagt Jacob schelmisch und lacht. Die Angestellten, die er bereits hatte, führten in dieser Zeit den Laden weiter.

Im Atelier / Foto: Peter Schulz

 

Eine alte Kundin betritt das Geschäft – die Erste, seit der Laden vor drei Stunden öffnete. Jacob ruft ihr zu: „Hallo, womit kann ick ne Freude machen?“ Die Frau erwidert: „Hallo und guten Tag und gesundes, neues Jahr.“ Der 61-Jährige wünscht gleiches. Nun schildert sie ihr Anliegen, sucht die Fotos und als sie ihm das Smartphone hinhält, konstatiert er sofort: „Wiener Kaffeehaus-Stuhl, der kostet 97 Euro fuffzig und ist in den letzten 20 Jahren produziert worden.“ Die Kundin lässt sich versichern, dass es der Preis vom Geflecht ist und überlegt laut, wie sie die drei Stühle in den Laden bekommt. Als sie ihm noch ein Bild von der Stuhlunterseite zeigt, wird er etwas energisch: „Ick weeß, es interessiert mich nich. Ick brauch nur een Blick. Nach 37 Jahren sollte man dit drauf haben.“

 

Wie der Vater, so der Sohn

Die Korbmacher-Tradition der Familie beginnt schon 1918 in der Singerstraße in Friedrichshain. Sein Großvater Karl Jacob gründet damals ein Korbmachergeschäft, auch sein Vater Arthur wird Korbmacher. Doch der sagte gleich zu ihm: „Sohn, lern einen vernünftigen Beruf, geh in einen Großbetrieb.“ Da hatte der Vater schon zwei seiner Kinder als Korbmacher ausgebildet. So ging Fred Jacob, der jüngste Sohn der zehn Kinder in der Familie, 1982 beim ältesten Bruder für zwei Jahre in die Lehre. Dieser besaß ein Geschäft in der Raumerstraße, er starb 1995. Heute betreibt sein anderer Bruder noch einen Laden in Mitte und sein Neffe einen in Pankow. Und sogar seine Tochter hat bei ihm Korbmacherin gelernt, arbeitet aber zurzeit in einem Supermarkt.

Fred Jacob will jedoch nicht über seine Familie reden und fragt energisch: „Haste nicht andere Fragen, die interessant sind?“ Er will ausschließlich über sein Leben erzählen und sagt: „Ick bin icke. Um mich gehts und nicht um meine Eltern.“ Also ist nur so viel zu sagen: Er wird 1960 geboren und wächst, bis er die Schule abschließt, in Altglienicke auf. Nach der Schule absolviert er, so wie sein Vater ihm rät, eine Ausbildung im Werk für Fernsehelektronik. Dort ist er zuständig für die Funktionstüchtigkeit der Produktionsmaschinen und schon mit Anfang 20 in der höchsten Lohngruppe der DDR. Für ihn konnte das nicht alles gewesen sein. So beginnt er die Lehre des Korbmachers, um anschließend die Ladenwerkstatt in der Winsstraße zu übernehmen. „Man nannte mich auch den Senkrechtstarter der Familie“, gibt er nicht ohne Stolz wider.

 

Vom Handwerk zu Billigware

Dieser Senkrechtstarter arbeitet bis heute in dem Geschäft. Zu DDR-Zeiten war das Arbeiten jedoch ein anderes, damals mit sechs Angestellten. Bei Ladenöffnung um 10 Uhr steht schon eine Schlange vor der Tür und zwei Stunden später ist alles ausverkauft. Die Materialvergabe wird planwirtschaftlich geregelt und die Preise seiner Produkte – Einkaufskörbe, Wäschebehälter, Tabletts – müssen vom Preisamt in Leipzig genehmigt werden, was lange Wartezeiten bedeutet. 36 Korbmacher gab es früher in Ostberlin, heute sind es nur noch eine Handvoll. Vielleicht hat er deshalb so viel zu tun und fragt sich manchmal, wo die Leute die ganzen Stühle hernehmen. Aus ganz Deutschland bringen Menschen ihre Stühle nach Berlin, wenn sie ihre Kinder besuchen, oder schicken sie sogar per Post. Das freut ihn natürlich, denn es gab auch andere Zeiten.

Nach dem Fall der Mauer lief erst einmal gar nichts mehr, erzählt der 61-Jährige. Alle sechs Angestellten werden entlassen. Nun wollen die Menschen vor allem Westprodukte kaufen, in seinem Handwerk heißt das: billige Rattanmöbel. Also verkauft er jahrelang Rattanmöbel im Laden , bis es ihm über ist, um den Preis zu feilschen oder sich von den Kunden anzuhören, dass es woanders billiger ist. Er beginnt wieder mit eigener Produktion. Dabei sind fünfzig Prozent seiner Arbeit alltägliche Stuhl-Reparaturen – neben seinen Aufträgen für Theater- und Opernhäuser oder Sonderanfertigungen. Mit so einem Einzelstück, einem geflochtenem Frauentorso, gewann er 2001 den Landespreis Gestaltendes Handwerk von Berlin-Brandenburg – und damals 20.000 DM Preisgeld, das sofort den Gerichtsvollzieher vor der Tür stehen ließ.

Korbstühle sind noch immer gefragt / Foto: Peter Schulz

 

Die Geschichte der Pleite hat nichts mit dem Korbmacher-Geschäft zu tun, sondern mit drei Lebensmittelgeschäften Anfang der 90er Jahre. In dieser Übergangszeit, in der der Ostdeutsche langsam lernen muss, wie der Westen denkt und handelt, eröffnet Jacob drei Läden ausschließlich mit Ostprodukten. Sein Geschäftspartner ist ein sogenannter Ostwessi, so seine Wortschöpfung. Ein Ostwessi, erklärt er, ist ein Ostler, der in den Westen abgehauen war und dann zurückkam. Der 61-Jährige vervollständigt: „Diese Spezies ist jefährlich, denn die wissen, wie nen Ossi is, haben den Westen kennenjelernt und wussten dann, wie se nen Ossi bescheißen konnten.“ Eine sechsstellige Summe Schulden hinterlässt dieser sogenannte Ostwessi ihm, seit fünf Jahren sind sie getilgt. Und mitten in diesem Prozess steht die Scheidung nach 30 Jahren Ehe an – keine Schulden, keine Ehe mehr.

 

Kein Gedanken ans Aufhören

Fred Jacob aber betitelt sich selbst als Stehaufmännchen, ein Mann, der nicht aufgibt und sich gerne Herausforderungen stellt. Man glaubt es ihm sofort. Er hat keine Angst vor speziellen Kundenwünschen und sagt: „Erstma mach ick sowieso allet. Ick fürchte mir vor nüscht.“ Dazu gehörte ein Hut für den Genfer Autosalon, unter dem ein Auto präsentiert wurde, oder zwei über vier Meter große Hände für das Opernhaus in Los Angeles. Nur einmal ist er an seine Grenzen gekommen und hat abgesagt: einen menschengroßen Bienenkorb herzustellen –wegen einer besonderen Flechttechnik. Dieser Umstand kratzt jedoch nicht an seinem Selbstbewusstsein: „Ick bin wer und kann auf dit, was ich erreicht habe, stolz sein.“ Die Leute hier im Kiez mögen ihn, er hat sich einen Namen gemacht.

Aber er hört noch lange nicht auf, das steht fest. Sein Bart und seine Haare werden zwar grau, witzelt er, und die Jahre gehen weiter ins Land. Aber auf die Rente bereitet er sich nicht vor. Sein Plan ist es, mit 90 Jahren aufzuhören, vier Jahre Rente zu bekommen und dann „geh ick in die Kiste.“ Fred Jacob wird nicht freiwillig aufhören. „Mich muss man hier tot aus dem Laden raustragen“, sagt er mit ernstem Nachdruck und begibt sich in die Werkstatt im hinteren Teil des Geschäfts. Einen Augenblick später steht er arbeitend am Brenner und redet dabei noch lange über unsere verrückte Gegenwart und die „Spinnereien, die die Zukunft bringt.“ Aber der Prinz aus der Winsstraße richtet auch dann seine Krone und macht einfach immer weiter.

Fotos: Peter Schulz

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