Wasserturm

Psychodrama im Wasserturm

von Julia Schmitz 19. August 2019

Eine Schauspielschule im Wasserturm? Für ihren neuen Roman „Der Gott der Stadt“ hat sich Christiane Neudecker den Kollwitzkiez als Bühne ausgesucht.


Das Gebäude zwischen Belforter und Knaack, Diedenhofer und Kolmarer Straße hat eine wechselvolle Geschichte: 1877 erbaut, versorgte der Wasserturm das entstehende Viertel vor dem Prenzlauer Tor viele Jahre lang mit Wasser, bevor die Nationalsozialisten das prominente Gebäude ab 1933 für ihre grausamen Zwecke missbrauchten und in dem „wilden Konzentrationslager“ Menschen ermordeten.

Später wurden die Wohnungen, in denen bereits nach Errichtung des Turms die dazugehörigen Arbeiter gelebt hatten, zu begehrten Immobilien. Der anliegende Hügel ist mittlerweile mit Wein bewachsen und dient den Anwohnern als Platz zum sonnen und dösen, im Wasserspeicher finden regelmäßig Kunstaktionen statt. Eine Schauspielschule hat es allerdings hier nie gegeben.

Doch dank künstlerischer Freiheit hat sich Christiane Neudecker diesen Ort als Hauptschauplatz für ihr neues Buch ausgesucht: in ihrem Roman Der Gott der Stadt, der 1995 spielt, befinden sich hier die Büro- und Proberäume der über die Landesgrenzen hinaus bekannten „Schauspielschule Erwin Piscator“.

Der Turm war ein Teleskop. Das unterirdische Neunauge ließ ihn mitten im Prenzlauer Berg aus der Erdkruste brechen und schickte ihn dort steil aufwärts, hinauf in die Höhe der Stadt. Für Unbeteiligte ist es ein schönes Bauwerk.

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Ein Riss geht durch die Stadt

Katharina Nachtrab, gerade mit der Schule fertig, hat einen der begehrten Plätze im Fach Regie ergattert; nur vier weitere Studenten haben ebenfalls eine Zulassung erhalten. Aus der süddeutschen Provinz kommt sie nach Berlin, in dessen Mitte sich knappe sechs Jahre nach dem Fall der Mauer noch immer unübersehbar eine große Wunde befindet. Tagelang streift sie durch die Stadt, ist überwältigt und auch überfordert von der Großstadt, dem Schleppen von Kohlen, dem eiskalten Wind zwischen den Häuserschluchten und der sozialen Isolation:

Es fühlte sich an wie Überleben. Überleben in einer Stadt, die ein Rätsel für mich war. […] Die hohen Fenster und Türen der von Einschlusslöchern und Graffiti überzogenen Fassaden. Die Klos auf halber Treppe, die Treppenhäuser, die immer nach Bohnerwachs rochen, auch wenn sie niemand reinigte.

 

Pakt mit dem Teufel

Mit dem Beginn des Studiums wird sie allerdings in einen Kosmos hineingezogen, den sie in dieser Intensität ebenfalls nicht erwartet hatte. Unter der Leitung des Regisseurs alter (Ost-)Schule, Korbinian Brandner, sollen die fünf Erstsemester die Inszenierung eines Textes von Georg Heym erarbeiten. Der war 1912 mit seinem besten Freund beim Schlittschuhlaufen auf der Havel ertrunken; in seinem Nachlass fand sich das Fragment einer Bearbeitung des Faust-Stoffes. Die Auseinandersetzung damit zieht die Studenten nach und nach in einen Strudel aus Geheimnissen, Misstrauen, Verrat und Exzess – so als hätten sie, ähnlich dem Faust selbst, einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen.

Wie weit geht man für die Kunst, wie weit.
Welche Abgründe ist man bereit zu durchschreiten.

Wo liegt die Grenze zwischen künstlerischer Auseinandersetzung und krankhafter Obsession? Müssen Schauspielschüler erst psychisch gebrochen werden, bevor sie etwas Neues auf der Bühne erschaffen können? Die fünf Studenten – aus deren Sicht das Geschehen abwechselnd erzählt wird – stellen sich diese Fragen erst, als es zu spät ist und sie eine Leiche auf der Probebühne im Bauch des Wasserturms finden.

 

Aus eigener Erfahrung

Wasserturm Christiane Neudecker, geboren 1974, studierte selbst Theaterregie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin – die autobiographischen Überschneidungen mit den Eckpunkten ihres Romans haben augenscheinlich als Inspiration gedient. Wie sich Theater in den 1990er Jahren noch bezüglich der Herangehensweise an Themen in Ost und West unterscheiden ließ, Heiner Müller wie ein Gott über allem schwebte und die nachfolgende Generation um Neuerungen kämpfen musste – zum Beispiel um heute längst gängige Videosequenzen und Leinwände auf der Bühne – weiß die Autorin aus eigener Erfahrung zu beschreiben.

Das lässt sich allerdings leicht vergessen, betritt man mit Katharina, Tadeusz, Nele, Francois und Schwarz die kalten, abweisenden Räumlichkeiten des Wasserturms, taucht mit ihnen in die Spekulationen um die Absichten Heyms ein, dessen Fragment mehr als kryptisch geblieben ist. Währenddessen bemerkt man nur schleichend, wie sich die Schlinge aus Selbstzerstörung und Aufopferung immer enger um den Hals der Studenten zieht – das Ende kommt ebenso überraschend wie leise daher und ändert für die Beteiligten alles. Nur der Wasserturm steht weiterhin aufrecht mitten im Kiez. Ein atemloser, grandioser Roman!

 

Christiane Neudecker: Der Gott der Stadt
Luchterhand Verlag, 2019
Gebunden, 672 Seiten, 24 Euro

 

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