Mit Willen und Mut

von Peter Schulz 16. Oktober 2023

Walter Friedländer wurde 1921 Leiter des Jugendamts Prenzlauer Berg. Noch heute ist sein sozialpädagogischer Ansatz Praxis in den Jugendämtern.


Berlin 1921, seit drei Jahren ist der Erste Weltkrieg vorbei. Nach den Goldenen Zwanzigern hört es sich noch nicht an, eher nach Versorgung und Verwaltung, auf dass der Hunger der Menschen gestillt und alles administrativ organisiert wird: wegen der anhaltenden Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln beispielsweise, bewilligt der Magistrat von Berlin einen Betrag von zehn Millionen Mark zur Unterbringung von Kindern auf dem Lande. Außerdem beschließt er einen neuen „Berliner Brennkalender“ für die Straßenbeleuchtung, um Energie zu sparen. Eine Milchordnung wird erlassen, die die Verteilung der in Berlin eintreffenden Milch auf alle Stadtteile verteilt. Und dann wird auf Beschluss des Magistrats noch eine städtische Kartoffelreserve angelegt, um die Bevölkerung besser zu versorgen und Preistreiberei zu unterbinden.

Und in der Berliner Verwaltung? Nach der Bildung der 20 Verwaltungsbezirke im Rahmen der neuen Stadtgemeinde Groß-Berlin am 1. Oktober 1920 ist man noch im darauffolgenden Jahr damit beschäftigt, dass jeder Bezirk seine einzelnen Abteilungen und Ämter einrichtet. Im Juni 1921 erklärt das Oberlandesgericht die ersten Wahlen zur Gesamt-Stadtverordnetenversammlung und zu den Bezirksversammlungen, die im Vorjahr stattgefunden hatten, wegen teilweiser Wahlfälschung zugunsten von SPD und USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) für ungültig. Zum 16. Oktober werden Neuwahlen angesetzt. Und in dieser verwaltungstechnischen Neuordnung wird der gerade mal 30-jährige Walter Friedländer Stadtrat und Leiter des Jugendamts Prenzlauer Berg. Er wird in seiner zwölfjährigen Amtszeit Pionierarbeit in der Jugendhilfe leisten.

 

Bewährungshelfer, Kriegsdienst, Verwaltung

Walter Friedländer wird 1891 als ältester Sohn von Hugo und Ernestine Friedländer geboren. Sein Vater ist in der deutschen Friedensbewegung aktiv. Nach dem Abitur studiert Friedländer bis 1914 Jura, Philosophie und Soziologie in München und Berlin, tritt in den Sozialistischen Studentenbund bei. In dem Jahr lernt er auch seine spätere Frau Li Bergmann kennen. Aus Interesse am Jugendstrafrecht arbeitet Friedländer nebenbei als freiwilliger Bewährungshelfer. 1916 aber wird er in den aktiven Kriegsdienst berufen, von dem er allerdings im Laufe des Krieges abgezogen und mit verwalterischen Tätigkeiten in Gefangenenlagern außerhalb Berlins betraut wird. Gleichzeitig tritt er 25-jährig in die USPD ein.

Dann endet der Erste Weltkrieg und der Versailler Vertrag sieht erhebliche Regresszahlungen vor. Deutschland ist deshalb finanziell nicht in der Lage, ein angemessenes Versorgungs- und Fürsorgesystem aufzubauen, welches für die zahlreichen Kriegsverletzten und -versehrten dringend nötig ist. Für Friedländer geht es besser aus. Er überlebt den Krieg und heiratet 1919 Li Bergmann, sie bekommen eine Tochter. Er ist nun 28 Jahre alt, schreibt an seiner Dissertation, tritt dem Bund Entschiedener Schulreformer bei und engagiert sich in der Kommunalpolitik. Prompt wird Walter Friedländer Abgeordneter in der Bezirksversammlung Berlin-Wilmersdorf, zwei Jahre später schon übernimmt er die Leitung des Jugendamts Prenzlauer Berg.

1921 muss man sich den Prenzlauer Berg als einen der ärmsten und am dichtesten bevölkerten Bezirke vorstellen. Die Linksparteien haben dort eine überdurchschnittlich starke Macht, was die Sozialdemokratischen Regierung festigt. So hat Friedländer auch den Rückhalt des Bezirksbürgermeisters Otto Ostrowski (SPD) und des Bezirksamtes und kann durch die politischen Konstellationen den Ausbau der öffentlichen Jugendfürsorge vorantreiben. Er beginnt, das Jugendamt Prenzlauer Berg neu zu organisieren und baut es in seiner Amtszeit mit Hilfe qualifizierter Fachkräfte aus Jugend- und Frauenbewegung, psychoanalytischer Bewegung sowie der Arbeiterwohlfahrt aus.

 

Schwerpunkt auf Prävention

Mit den Jahren wird dieses Jugendamt das Musterbeispiel der Weimarer Zeit, da es die fortschrittlichen Bemühungen der 1920er-Jahre widerspiegelt. Für Friedländer ist es ein wichtiges Organ der Jugendhilfe. Die neue Organisation setzt stark auf Prävention und will somit die Gesamtheit der Kinder und Jugendlichen des Bezirkes erfassen. Friedländer ist überzeugt davon, dass nur auf diese Weise der Paragraph 1 des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG), „das Recht des Kindes auf leibliche, seelische und gesellschaftliche Tüchtigkeit“ umzusetzen ist. Im Sinne des RJWG nimmt das Jugendamt Prenzlauer Berg für sich die führende Rolle der öffentlichen Jugendfürsorge in Anspruch, indem es starke öffentliche Aufsicht über beispielsweise Krippen und Kindergärten ausübt.

Seit Mitte der 1920er Jahre widmet sich Friedländer auch der Ausbildung von Sozialarbeitern, da er durch das Bezirksamt ständig mit dem Problem unqualifizierter Arbeitskräfte konfrontiert wird. Er unterrichtet bis 1933 an verschiedenen Ausbildungsschulen. Sein Erfolg liegt vor allem auch darin, die Kooperation unterschiedlicher Institutionen zu fördern und die Erfahrungen der einzelnen Arbeitsfelder sinnvoll in Bezug zueinander zu setzen.

Von Anfang an ist er gegen das NS-Regime, versucht gegen die Bestimmungen vorzugehen und ruft öffentlich zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten auf. In der Zeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“ schreibt er im Dezember 1931: „Fürsorger und Fürsorgerinnen, wo steht ihr im politischen Kampf? …Wir sagen auch, die Gewaltherrschaft der Nazis muß verhindert werden; Zersplitterung und Müdigkeit sind es, die der Arbeiterschaft die Kampfeskraft nehmen.“

 

Flucht in die USA

Schon im März 1933 hat Friedländer keine Hoffnung mehr, noch irgendwas gegen die NS-Herrschaft tun zu können. Er weiß, dass die Lebensgefahr für ihn und seine Familie größer wird und nutzt eine Konferenz des „International Child Welfare Council“ in Genf dazu, Deutschland zu verlassen. Seine Arbeit im Bezirksamt wird in diesem Jahr durch die Nazis beendet, die Partei der Sozialdemokraten und die AWO in Deutschland am 5. Mai verboten. Er geht erst nach Paris; 1937 entscheidet er sich dann, Europa ganz zu verlassen. In den USA beginnt er zu forschen und wird Dozent. Ab 1946 führt er den Vorsitz des „International Comitee of Social Welfare“ und ab 1959 arbeitet er als Ausbildungsleiter für Studiengruppen von Auslandsstudenten. Außerdem lehrt er als Gastprofessor an zahlreichen Universitäten in Europa und in den USA. 1984 stirbt er mit 93 Jahren in Oakland, Kalifornien.

Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz brachte zwar nicht die von den Sozialdemokraten geplante Revolution, aber Friedländers Arbeit und die seiner Mitarbeiter hat den Grundstein für das heutige Kinder- und Jugendschutzgesetz (KJHG) gelegt. Die aktuelle gesetzliche Basis für die Kinder- und Jugendhilfe wäre ohne das RJWG nicht so weit. Friedländer leistete wirkungsvolle Pionierarbeit für die Jugendwohlfahrt und hat mit dem eigenverantwortlichen Jugendamt Prenzlauer Berg eine Funktions- und Arbeitsweise geschaffen, wie sie noch heute in den Jugendämtern Praxis ist.

 

Titelbild: Freepik / master1305

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1 Kommentar

Bernt Roder 28. Oktober 2023 at 12:32

Das Museum Pankow har dem Reformjugendamt Prenzlauer Berg unter Waler Friedlander unter dem Titel „Aufbruch und Reform. Pionierinnen und Pioniere der modernen Sozialarbeit in Prenzlauer Berg während der Weimarer Republik“ eine Ausstellung gewidmet. Der Begleitband ist noch im Museum in der Prenzlauer Allee erhältlich. ISBN 978-3-00-067536-2, 8.50 €

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