Mauer

„Die DDR fängt nicht mit dem Mauerbau an“

von Peter Schulz 13. August 2021

Am 13. August jährt sich der Jahrestag zum Mauerbau zum 60. Mal. Was verbinden die Menschen heute damit? Ein Spaziergang entlang des Berliner Mauerwegs.


Ist die Gegenwart eine Welt aus Zahlen, frage ich mich, als ich am Samstag Anfang August auf der Bösebrücke, die fälschlicherweise oft Bornholmer Brücke genannt wird, stehe. Auf dem Mittelstreifen verkündet abwechselnd eine große Werbetafel die Verheißungen dieser Tage: dass alle 11 Minuten sich ein Single über parship verliebt und flink innerhalb von 10 Minuten den Einkauf liefert. Liebe geht wohl durch den Magen. Und auch das Erste bescherte den Deutschen kürzlich einen Film zum Mauerbau mit dem Titel „3 ½ Stunden“. Wehe dem, der die DDR nur aus dem Fernsehen kennt und glaubt, er wisse jetzt mehr von dem Land, er könne sich ein differenziertes Bild machen.

Die Gegenwart will also schnell sein. Da kommt es einem fast verdächtig vor, wenn jemand innehält, wie die ältere Frau auf dem Trottoir. Sie pausiert gerade und findet Halt am Griff ihres Trollis. „Alles gut?“, frage ich, und komme mit ihr ins Gespräch. Wegen einer Operation am Bein muss sie sich zwischendurch ausruhen. Sie verbindet mit dem Mauerbau den Mauerfall, vielmehr die danach stattfindenden Jugoslawienkriege. Seit 41 Jahren ist die gebürtige Kroatin in Deutschland, sieht sich eher als Deutsche. Ansonsten will sie sich nicht weiter äußern, hat auch keine Zeit, sie muss schließlich zum Wochenende einkaufen, murmelt jedoch noch ein paar Sätze zur „Drecks-Nato“, bedankt sich und wünscht einen schönen Abend.

An einem Samstagabend in Berlin liegt immer etwas in der Luft. Die Stimmung ist aufgeladen und laut, Alkohol fließt, alle sind unterwegs. Ich beschließe, noch einmal am Montag zu kommen, wenn der erste Schultag und Arbeitstag der Woche ist zu Ende ist. Dann hat alles vielleicht wieder etwas Alltägliches. So ist es dann auch: keine Touristengruppen, nur sehr viele Fahrrad fahrende Frauen und Männer, die entlang des Mauerwegs radeln. Außerdem: Menschen, die mit Hund oder Kind spazieren gehen, Jogger, die sich laufend durchschlängeln.

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Mauerweg

Auch der Schwedter Steg gehört zum Berliner Mauerweg / Foto: Peter Schulz

 

Vorurteile festigen oder Fragen stellen und zuhören

Ein Trio um die dreißig kommt des Weges, die halbe Welt ist in ihrem Aussehen vertreten. Am Ende kommt er aus Coburg, die eine aus Baden-Württemberg, die andere ursprünglich aus Bayern, jetzt in Berlin lebend. Dass sie gerade den Nachmittag auf dem Mauerweg verbringen, wissen sie gar nicht und wundern sich: Ah, oh. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass sie nicht wirklich etwas mit der Mauer verbinden. Nur die jetzt in Berlin Lebende erzählt eine Geschichte ihrer Großmutter, die in Bayern an der Grenze wohnte und nach dem Mauerfall einer Nachbarin die Tür vor der Nase zuschlug, weil diese ihren Besuch einleitete mit: „Ich bin von drüben …“ Von drüben, erzählt sie, kamen immer nur die Ossis, die den Ruf hatten, faul zu sein und nicht arbeiteten. Erst jetzt lernt sie über ihre Kollegen den Osten kennen und scheint mehr Interesse zu entwickeln.

Dieses Klischee des faulen Ossis kennt auch das Ehepaar, das gerade in seinem Kleingarten an der Bösebrücke verweilt. Sie, 79, steht in den Bohnen und erntet. Er, 81, kommt in Arbeitskleidung ans Tor, als ich mich nähere. Den Garten, erzählen beide, haben sie schon immer gehabt. Sie berichtet, dass sie in dem Haus, das jetzt ein Gartenhaus ist, sogar geboren wurde. Der Vater hatte das Grundstück 1932 gepachtet, 1933 war das Haus fertig. Die 79-Jährige kommt nun mit einer Handvoll Bohnen auch an den Gartenzaun und sagt: „Der Wachturm war nicht weit entfernt. Die Soldaten konnten uns auf den Tisch gucken, manchmal haben sie sich auch einen Apfel vom Baum genommen.“ Und ihr Mann fügt hinzu, dass jeder bedenken sollte: „Die Geschichte fängt nicht mit der DDR an. Und die DDR nicht mit dem Mauerbau.“

Kurz nach dem Mauerfall war sie drei Jahre lang arbeitslos. Aber, sagt ihr Mann, wir hatten immer unser Auskommen. Wir reden über Gemüseanbau, das anstehende Erntedankfest Anfang September und die Zukunft der Gartenanlage Bornholm I und II, wenn 2030 die Schutzfrist abläuft. Und am Ende fragt die 79-Jährige: „Mögen Sie Bohnen?“ Und ich denke einmal wieder: die große Geschichte und die Welt des Alltags können nebeneinander stehen.

 

Mauerweg

Die Bösebrücke / Foto: Peter Schulz

 

Pflanzen bestimmen im Mauerpark

Am nächsten Tag gehe ich weiter die Norwegerstraße entlang. Bis zur Behmstraßenbrücke laufe ich mit einer Kinderwagen schiebenden Mutter, 34 Jahre alt, mit Hund. Sie stammt gebürtig aus Russland, mit fünf Jahren kam sie nach Deutschland, nach NRW. Seit drei Jahren erst wohnt sie mit ihrem Mann, einem Brasilianer, in Berlin. Auch wenn das hier nur ein alltäglicher Spaziergang sei, sagt sie, schwinge die Geschichte immer mit. Das gefalle ihr an Berlin sowieso gut, dass überall Geschichte zu erleben sei, wenn man wolle. Ich laufe über die den Schwedter Steg und die Schwedter Straße, wo bei Sonnenschein viele Kinderstimmen zu hören sind. Menschen stehen für Eis an, tragen Einkäufe nach Hause, rauchen und trinken Kaffee auf der Kante des Bürgersteigs.

Am Eingang des Mauerparks an der Gleimstraße versucht eine 70-Jährige, mit einer Schere eine vertrocknete Distelblüte in einen Briefumschlag zu schneiden. Ich spreche sie an und frage sie, was sie mit der Mauer oder dem Mauerbau verbindet Ihre Antwort: „Nüscht!“ Ihr sei nur wichtig, was hier wachse und lebe, die Wiesenblumen und die Insekten. In dem Alter interessiere sie die Politik „einen feuchten Kehricht“. Allerdings muss sie noch hinzufügen, dass sie Samstag und Sonntag den Mauerpark meide: „Die benehmen sich wie Idioten, grillen und trinken.“ Ich bekomme noch einen kleinen Exkurs in Pflanzenbestimmung und dann huscht sie in Richtung Wedding, denn durch den Mauerpark geht sie nicht.

 

Was sagt die Jugend?

Ich jedoch gehe durch und nehme sofort Grillgeruch wahr, Rauch steigt in den Himmel. Jetzt werde ich angesprochen, von einem Gambier, der fragt, ob ich Maler sei. Nein, sage ich, ich bin Schreiber. Ich versuche ihm zu erklären, dass hier früher eine Mauer Berlin in Ost und West geteilt hat. Er versteht nicht so recht, sagt, dass er hier nur chillt im Park und wünscht noch einen schönen Tag. Jetzt muss ich aber auch noch einmal die Jugend fragen. Aber die Jugend guckt im ersten Moment nur irritiert. Die 14-Jährige ist keine Berlinerin, die 15-Jährige wohnt in der Nähe und beide verbinden mit dem Park und der Mauer: nichts. Die 15-Jährige sagt noch, dass man die Geschichte ja täglich vor Augen habe und es irgendwann normal sei.

Am Ende des Mauerparks, wo die Eberswalder zur Bernauer Straße wird, wo der Verlauf der Mauer auf dem Boden mit zwei Reihen Kopfsteinpflaster gekennzeichnet ist, steht ein Paar im mittleren Alter, er auf der ehemaligen Westseite, sie auf der Ostseite. In Christa Wolfs Roman Der geteilte Himmel heißt es: „Früher suchten sich Liebespaare vor der Trennung einen Stern, an dem sich abends ihre Blicke treffen konnten. Was sollen wir uns suchen? ‚Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen‘, sagte Manfred spöttisch. Den Himmel? Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer? ‚Doch‘, sagte sie leise. ‚Der Himmel teilt sich zuallererst.’“ Das Paar möchte die Straße überqueren und weiß scheinbar nicht, dass es gerade symbolträchtig auf der Mauer steht. Beide gehen auf dieser Markierung auf die andere Seite und verschwinden in Richtung Osten, in den Prenzlauer Berg.

 

Titelbild: Pflastersteine zeigen, wo die Berliner Mauer verlief / Foto: Christina Heuschen

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