Eine Storytellerin mit Auftrag

von Christina Heuschen 21. Oktober 2020

Rachel Clarke liebt es, Geschichten zu erzählen. Sie ist überzeugt, dass Storytelling beim Publikum eine Verhaltensänderung bewirken kann. Eine „famose Frau“ aus Prenzlauer Berg im Porträt.


Dies ist ein Text aus unserer Reihe
„Famose Frauen aus Prenzlauer Berg“


„Hier wird vielleicht ein bisschen auf Community Theater und ähnliches hinabgeschaut, aber die Frage ist: Wer sitzt im Publikum? Möchtest du bereits offene Türen einrennen? Wenn du in ein Stadttheater gehst, sitzen da nicht Leute, die alle gebildet sind? Und alle sagen: ‚Ja, ja, genau, genau.‘ Egal, was gespielt wird“, sagt Rachel Clarke und runzelt ihre Stirn. Ihre Augenbrauen zieht sie dabei ein wenig zusammen „Ganz kritisch reden sie dann mit einem Glas Sekt darüber“, sagt sie, hebt ein imaginäres Sektglas und spitzt ihre Lippen. Ihre Stimme wird auf einmal immer höher: „Ja, das müsste man eigentlich ändern. Ja, ja…“ Mit normaler Stimme redet sie weiter: „Und in einer Stunde ist es dann schon wieder vergessen. Aber was änderst du bitte schön damit?“

Rachel Clarke möchte etwas verändern. Daher arbeitet sie als professionelle Erzählerin und Coach für autobiografisches Storytelling. Regelmäßig erzählt die Prenzlauer Bergerin Geschichten, lässt ihre Zuhörer*innen in wenigen Sätzen in eine andere Welt eintauchen. Für Clarke ist Storytelling eine Möglichkeit, Empathie zu schaffen. Das Publikum könne sich so mit dem Gehörten und mit der erzählenden Person identifizieren. Wenn danach aber kein interaktiver Moment geschaffen werde, vergesse das Publikum schnell.

„Erst wenn du dich aktiv damit auseinandersetzt, was du gerade gehört hast, geht es tiefer. Aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Mittel-, in das Langzeitgedächtnis. Wenn du ein tolles Erlebnis schaffst, dann wird es bei denen bleiben und bleiben und bleiben. Es kann sogar eine zündende Erfahrung für eine Verhaltensänderung sein“, glaubt Clarke. Insofern bewegen sich ihre Projekte auch zwischen Aktivismus und Kunst.

Angefangen hat alles, als sie mit einer Freiwilligenorganisation 1991 von Schottland nach Berlin kam. Damals schloss sie sich dem Verein Netzwerkspielkultur an, der heute noch immer in Prenzlauer Berg aktiv ist, und half bei einer Filmwerkstatt für Kinder. Da ihre Unterkunft ihr auf einmal doch nicht zur Verfügung stand, fand sie sich in einem besetzten Haus auf der Schönhauser Allee wieder – mit zwei Polen, einer Italienerin und einer Französin, die alle den Sommer im Osten Berlins verbringen und dabei etwas Sinnvolles machen wollten. Doch sie wohnte nicht nur in so einem Haus, sie spielte Geige mit einem 100-Watt-Gitarrenverstärker in den damals spontan entstehenden Clubs. Dieses Leben habe enorm viele Freiräume für Kreativität geboten. Freiräume für man nur einen Dietrich brauchte. „Wer den Dietrich hatte, war damals König“, sagt sie lachend.

 

Fortbildung bei Augusto Boal

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Projekt „Kolliwood II“ des Vereins Netzwerkspielkultur © privat

 

Weil ihr Berlin und vor allem Prenzlauer Berg so gut gefielen, kam sie ein Jahr später für ein Erasmusjahr während ihres Germanistikstudiums zurück. Es folgten ein Diplomstudium für Regie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und eine Fortbildung bei dem Regisseur, Theaterautor und -theoretiker Augusto Boal in Rio de Janeiro. Bei ihm lernte sie die Methode „Forum Theater“ kennen, eine interaktive Theaterform bei der Schauspieler*innen mit Leuten aus dem Publikum ihre Plätze tauschen. Ziel der Methode ist es, mit dem Theater die Realität zu verändern und so beispielsweise soziale Probleme zu lösen.

Heute sagt sie, die Fortbildung habe ihr gezeigt, wie Themen entwickelt werden und dass Theater Veränderung ermöglichen könne. Die Zuschauer*innen würden sehen, genießen und überlegen, wie sie selber etwas umsetzen können. Empowerment und Selbstermächtigung und Hilfe zur Selbsthilfe. Nachdem sie fünf Jahre lang für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit mit Nomaden in Südostasien zusammengearbeitet hat und eine kurze Zeit am Theater in Göttingen war, kam sie 2011 wieder nach Berlin. Wieder nach Prenzlauer Berg. Seitdem wohnt sie im Kollwitzkiez. Alles, was sie dort erlebt habe, ihre Freund*innen und Nachbar*innen machen den Kiez zu ihrem Zuhause.

 

Da hat es Klick gemacht

Als sie ein Storytelling-Festival in Schottland besuchte, habe sie erlebt, wie Nomaden Schottlands ihre Geschichten erzählen durften – gleichberechtigt und auf Augenhöhe wie alle andere Storyteller*innen. Da habe es Klick bei ihr gemacht und sie wusste, dass sie Storytelling machen wollte.

Es folgten drei Programme in verschiedenen Duos. Prenzlauer Berg habe darin immer wieder eine Rolle gehabt, sagt sie. So habe eine Geschichte von ihrer ersten großen Liebe im besetzten Haus und ihrer Liebe zu Prenzlauer Berg gehandelt. Danach merkte sie recht schnell, dass sie auch noch etwas Interaktiveres und Politisches wollte. „Denn erst wenn das gesellschaftliche Element funktioniert, wenn das Publikum wirklich einbezogen ist, funktioniert Theater für mich“, sagt Clarke. Und so gründete sie 2015 die Storytelling Arena.  Zuletzt hat sie gemeinsam mit anderen Erzählkünstler*innen der Storytelling Arena, Schauspieler*innen und Autor*innen die Podcast-Reihe „Hoffnung. Das große Erzählen“ produziert, in der sie über ihr Leben während der Corona-Pandemie berichten.

Dass viele der Projekte auf Deutsch und Arabisch seien, liege vor allem an zwei Erlebnissen, die sie beeindruckt haben, sagt Clarke. So habe sie einmal Bassam Dawood auf der Bühne gesehen. Der Schauspieler und Hakawati, wie ein Geschichtenerzähler im Arabischen heißt, habe in traditioneller Kleidung dagesessen und aus einem großen roten Buch eine alte, syrische Legende vorgelesen. Links und rechts saßen zwei Frauen, die ebenfalls traditionell gekleidet gewesen seien. Dawood habe dann auf Arabisch erzählt. Die Frauen links und rechts hätten abwechselnd ins Englische übersetzt.

Kurz nach dem Auftritt Dawoods wurde sie von einem Auftraggeber gebeten, geflüchteten Syrer*innen Deutsch beizubringen, statt Storytelling in Potsdam zu unterrichten. Damals hätten die Teilnehmer*innen ihr nach einem Grammatikteil Geschichten erzählt. Abwechselnd wurde dann ins Englische übersetzt und sie erzählte die Geschichte erneut auf Deutsch. Einige der Teilnehmer erschienen danach bei den ersten Events der „Storytelling Arena“ und erzählten ihre aus ihrem Leben. Auch Dawood kam schließlich 2016 dorthin. Clarke hatte ihn eingeladen, den ersten Abend einer „syrischen Reihe“ mit ihr und einer Kollegin zu gestalten.

 

Rachel Clarke mit dem Team der „syrischen Reihe“ im Rahmen der Storytelling Arena © Adi Levy, www.adilevy.com

 

Zurzeit plant sie mit der Storytelling Arena ein Projekt, das bundesweit in verschiedenen Städten und ländlichen Regionen stattfinden soll. Unter anderem auch in Berlin. „Ich habe in all den Jahren in vielen Bezirken in der Stadt mit Storytelling gearbeitet aber noch nie in meinem eigenen Bezirk“, sagt Clarke. Jetzt aber sei die Zeit gekommen. Das neue Projekt solle in Berlin in Prenzlauer Berg stattfinden. Sie sei gespannt auf den Diskurs und ob es überraschende Wendungen geben wird.

Dafür solle ein Storytelling-Team lokal recherchieren und lokale Akteur*innen mit Praxiserfahrungen eingeladen werden. Gemeinsam mit erfahrenen und neuen Storyteller*innen möchte Clarke Programme erarbeiten und dann aufführen. „Thema eines solchen Events könnte ‚Zuwanderung‘ sein, denn wie Berlin wird auch Prenzlauer Berg immer internationaler“, sagt Clarke. So könnten Storyteller*innen von ihren beruflichen Werdegängen vor ihrer Ankunft in Berlin berichten und wie es sie trotz Sprachbarriere den Austausch in einem Projekt gestalten. Zusätzlich könne ein*e „Langzeit-Prenzlauer Berger*in“ aus der eigenen Biografie erzählen. Auch das Publikum solle im Anschluss eigene Geschichten erzählen. Das Neue am Projekt sei, dass nach dieser Storytelling-Debatte Lösungsvorschläge erarbeitet werden, die lokal umgesetzt und an die anderen Projektorte sowie politisch Verantwortlichen übergeben werden sollen. Ziel sei es beispielsweise, Menschen und Angebote besser miteinander zu koordinieren, Organisationen bekannt zu machen oder die Anerkennung internationaler Berufs- und Lebenserfahrungen einzufordern.

 

Eine Story mit einer Story kontern

Clarke ist sich bewusst, dass die Reaktionen auch negativ sein können: „Es kann natürlich bedeuten, dass jemand kommt und versucht, das Event zu kapern, zu instrumentalisieren. Bei allen interaktiven Veranstaltungen besteht dieses Risiko. Storys an sich sind nicht unbedingt etwas Gutes. Man kann die Narrative in alle Richtungen drehen. Es gibt auch rechte oder rassistische, kolonialistische Narrative“, sagt sie. Nach einer Weile fügt sie hinzu: „Wenn ich überlege, dass Rassismus so hoffähig geworden ist, ist das eine tiefe Enttäuschung in meine Wahlheimat. Das macht mich sprachlos.“ Während sie das sagt, wird ihre Stimme immer leiser. Eine Zeit lang sagt sie nichts, dann flüstert sie fast: „Ich habe mehr erwartet, meine lieben Nachbarn.“

Daher überlegt sie bereits, wie sie und ihr Team mit Diskriminierung und rechtsextremen Äußerungen umgehen sollen. Eine Idee sei eine Art Handbuch für Storytelling. Darin könne stehen, wie die Storyteller*innen und Moderator*innen mit ungewollten Situationen umgehen, sagt sie. Auf jeden Fall würden sie bei Live-Events so lange wie es gehe, diplomatisch agieren. Eine Story mit einer Story kontern.

Aufgeben möchte Clarke deswegen nicht. „Ich will auf jeden Fall dazu beitragen, dass es so wird, wie es in diesem kurzen Zeitfenster der Geschichte Europas war, wo Toleranz und Demokratie positiv gesehen wurden. Wo man das Gefühl hatte, wir gehen sogar in eine Richtung, wo wir unsere kolonialistische Vergangenheit aufarbeiten können.“ Denn zurzeit gebe es eher gegenläufige Tendenzen. Und so hat Clarke sich selbst und der „Storytelling Arena“ den Auftrag gegeben, Menschen, die marginalisiert sind, eine Stimme, eine Plattform zu geben. Und vielleicht hört das Publikum in den Events nicht nur bei einem Glas Sekt zu, sondern ändert tatsächlich auch etwas.

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