Bücher

Prenzlauer Berg druckfrisch

von Julia Schmitz 21. September 2020

Es rauscht im Blätterwald des Bücherherbstes: Vier neue Romane und Sachbücher zeigen Berlin insgesamt und Prenzlauer Berg im Speziellen – wir stellen sie vor.


Die Pandemie ist für die Literaturszene Fluch und Segen zugleich: Weil die beiden wichtigen Buchmessen in Leipzig und Frankfurt ausfallen und Lesereisen abgesagt werden mussten, bekommen zahlreiche Debüts in diesem Jahr nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Gleichzeitig wurde dem Medium Buch eine besondere Bedeutung zuteil, als der Berliner Senat Buchhandlungen während des Shutdowns als relevant für die Grundversorgung einstufte; manche Geschäfte machten so viel Umsatz, wie sonst nur in der Vorweihnachtszeit.

Aber ob mit Pandemie oder ohne, geschrieben und publiziert wird nach wie vor viel. Berlin als Stadt und Prenzlauer Berg als Mikrokosmos stehen dabei immer wieder im Mittelpunkt, ob literarisch verfremdet oder im Sachbuch. Wir stellen euch vier Neuerscheinungen vor, darunter einen Roman, historische Reportagen, geschichtspolitische Essays und einen Fotoband mit Kiez-Bezug.

 

Neue Bücher im Herbst

BücherIn den schwarzen Abenddunst reckten sich die Schornstein-Obelisken der Gasanstalt, die am Ende des östlichen Berlins zwischen Greifswalderstraße und Prenzlauer Allee liegt. Schwerfällig ruhten daneben die gewaltigen Sammelgewölbe mit ihrer kompakten Masse auf der Erde. […] Im Lichtschein der wenigen Laternen sah ich einzelne Gestalten dem letzten Gebäude der Fröbelstraße zustreben.“ Auf dem Gelände, das heute unter anderem Teile des Klinikums und der Bezirksverwaltung beherbergt, befand sich bis 1940 das größte Obdachlosenasyl von Berlin. Hier verbringt Hans Ostwald Anfang des 20. Jahrhunderts Eine Nacht bei den Obdachlosen“, schreibt später einen Text über seine Erlebnisse in der im Volksmund „Palme“ genannten Unterkunft. Dabei bewertet er nicht, sondern bleibt stets zurückhaltender Beobachter.

Es ist eine von zahlreichen Szenen und Reportagen, die der 1873 in Berlin geborene Journalist zwischen 1904 und 1908 in verschiedenen Publikationen veröffentlichte. Thomas Böhm hat nun eine Auswahl der Texte zusammen mit einem umfangreichen Vorwort herausgegeben und lässt uns über hundert Jahre später an Ostwalds Erlebnissen in der beständig wachsenden Metropole teilhaben; wir begleiten ihn in die „Kaffeeklappen“ und die schummrigen Bars im Scheunenviertel oder besuchen mondäne Tanztees im glamourösen Westen. Überschriften wie Der Fortpflanzungstrieb im Hüttenfeuer der Großstadt“ oder Die Rückständigkeit der Stadtverwaltung“ umreißen damalige Themen, die höchst aktuell wirken – Berlin ist also stets im Wandel und bleibt sich selbst doch immer treu.

Hans Ostwald, Thomas Böhm (Hrsg.): „Berlin. Anfänge einer Großstadt. Szenen und Reportagen 1904-1908“. Galiani Verlag, 2020. Gebunden, 416 Seiten, 28 Euro.


BücherHenriette Binneweis ist 11 Jahre alt, als Erzherzog Franz Ferdinand samt Gattin Sophie in Sarajevo erschossen und infolgedessen der Erste Weltkrieg angezettelt wird. Sie lebt mit ihrem Bruder und den Eltern auf dem „Prenzlberg“, zwei Zimmer im dritten Hinterhof, Klo auf halber Treppe. Nicht ganz so schmuddelig wie im Wedding, aber weit erntfernt von den seidenen Damen auf dem Kurfürstendamm: Die heilige Henni der Hinterhöfe“ wohnt sozusagen mitten in Zilles „Milljöh“. Und da möchte sie raus.

Tim Krohn hat in seinem neue Roman eine Hauptfigur geschaffen, die sich im Laufe der Geschichte vom naiven Backfisch zur gewitzten jungen Frau entwickelt und mit allen Wassern gewaschen ist. Um sie herum wird das Weltgefüge immer wieder durchgeschüttelt: Das Kaiserreich geht unter und die Weimarer Republik wird ausgerufen, ihr Bruder Kuddl schließt sich den Kommunisten an und erste Bekannte malen sich das Hakenkreuz auf die Mütze, Berlin wird 1920 zu Groß-Berlin und doppelt so groß; Henni arbeitet derweil erst als Nackttänzerin im Privatbordell ihrer Nachbarin und später als Mannequin für Unterwäsche, ihre Liebhaber geben sich die Klinke in die Hand. Und was bedeutet es eigentlich, dass ihre Mutter Jüdin ist? Krohn hat die wirren Zeitläufte des vergangenen Jahrhunderts gekonnt in eine literarische Form eingewoben, die – trotz aller historischen Dramatik – immer wieder für ein beherztes Lachen sorgt.

Tim Krohn: „Die heilige Henni der Hinterhöfe“. Kampa Verlag, 2020. Gebunden, 256 Seiten, 22 Euro.


BücherWohngebietsfest für antiimperialistische Solidarität“ steht auf dem Banner, das an einer Hausfront hängt; darunter stehen Mütter mit Kinderwagen und Enkel an der Hand ihrer Großmütter, es spielt eine Band. Harald Hauswald hat die Szene 1981 in der Oderberger Straße mit seiner Kamera festgehalten und damit einen Moment konserviert, der heute wie aus einer anderen Welt wirkt. Als „Chronist der DDR“ hat man den 1954 im sächsichen Radebeul geborenen Fotografen, der Ende der 1970er Jahre nach Prenzlauer Berg zog, oft bezeichnet. Mit empathischem Blick hielt er Alltagsszenen fest, dokumentierte Straßenzüge, spielende Kinder in staubigen Hinterhöfen, ältere Menschen, denen sich die Schrecken der längst vergangene Weltkriege ins Gesicht gegraben haben.

Während er die von einer Mauer begrenzte Welt um sich herum beobachtete, wurde er selbst akribisch observiert: Rund 40 Mitarbeiter der Staatssicherheit folgten Hauswald bis zum Fall der Berliner Mauer auf Schritt und Tritt, hielten jede gerauchte Zigarette, jede gekaufte Schrippe, jeden Kontakt mit Freunden fest. Der Katalog, der anlässlich der großen Retrospektive „Voll das Leben!“ in der C/O Berlin erschienen ist, versammelt nicht nur eine umfangreiche Sammlung aus dem 300.000 Fotografien umfassenden Archiv Hauswalds, sondern ebenso ergänzende Texte von Kurator Felix Hoffmann, Laura Benz aus der Agentur Ostkreuz und Regisseur Leander Haußmann. Letzterer findet fast hymnische Worte für den Künstler: Harald Hauswald ist der beste Fotograf, den ich kenne. Denn er ist ein Geschichtenerzähler. Seine Geschichten sind originell, voller Humor und Komik. […] Das gefällt mir sehr. Das bewundere ich.“ Dass diese Geschichten auch nach mehr als 30 Jahren noch ihre Wirkung zeigen, macht den Katalog zu einem wertvollen Dokument nicht nur vergangener Zeiten, sondern auch menschlichen Zusammenlebens.

Harald Hauswald: „Voll das Leben!“ Herausgegeben von Felix Hoffmann. Steidl Verlag, 2020. Gebunden, 408 Seiten, 45 Euro.


BücherMit der Deutschen Einheit wurde der Lebensalltag der DDR – und damit auch die Kultur – zunehmend zugunsten einer „Verwestlichung“ in den Hintergrund gedrängt. Diese These stellt Marko Martin in Die verdrängte Zeit“ zur Debatte – und setzt sich dann ausführlich mit dem kulturellen Erbe des ehemaligen Staates auseinander, ohne dabei in (n)ostalgische Schönfärberei zu verfallen. Filme wie Die Legende von Paul und Paula, die Lieder von Wolf Biermann oder literarische Texte von Christa Wolf waren und sind grenzübergreifend bekannt, aber was ist mit den Akteuren, die weniger laut ihren Standpunkt vertraten? Und wer, der nicht in der DDR aufgewachsen ist, weiß etwas über Popkultur oder Punk im Osten?

Marko Martin plädiert für mehr Entdeckerfreude, jedoch nicht als sinnloser Akt einer moralischen Wiedergutmachung, sondern mit einer Entdeckerfreude, die das Ästhetische nicht ausspielt gegen Politisches und sich bewusst ist, dass die Bilder eines Landes eigentlich immer nur Fragmente sein können.“ Drei Jahrzehnte ist es her, dass die physische Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten aufgelöst wurde; dieses Buch hilft dabei, auch die Grenze in den Köpfen ein Stück weiter einzureißen.

Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Endtdecken der Kultur des Ostens“. Klett-Cotta Verlag, 2020. Gebunden, 426 Seiten, 24 Euro.


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