Gekommen, um zu zahlen

von Anja Mia Neumann 27. Mai 2015

60-Stunden-Minijob für wenig Geld und wenige Quadratmeter Wohnraum für viel Miete, das ist der Alltag vieler Migranten im Kiez. Statt im Land, wo Milch und Honig fließen, landen sie auf dem Schwarzmarkt.

Auf dem Schwarzmarkt gibt es nichts, das es nicht gibt: Drogen, Waffen, Führerscheine, und inzwischen auch das Ausfüllen von Formularen. Das Angebot richtet sich an Menschen, die neu nach Prenzlauer Berg kommen. Sie suchen einen Ort zum Leben, eine Arbeit zum Überleben und eben auch Hilfe bei Behördengängen. Ohne oder mit nur wenigen Deutschkenntnissen ist die Gefahr, an dem Wirrwarr von Informationen und Gegebenheiten zu scheitern, extrem hoch.

Deshalb hat sich für all das, was Migranten brauchen, ein Schwarzmarkt entwickelt. Landsleute versprechen den Neu-Prenzlauer-Bergern Hilfe: Sie bieten Jobs, Wohnungen und Übersetzungen. Tatsächlich wirtschaften sie dabei aber in die eigenen Taschen.

 

Wo Milch und Honig fließen

 

„Viele Migranten sind schlecht informiert und naiv. Sie denken, Deutschland sei das Land, in dem Milch und Honig fließen“, erzählt Sophia Oelsner. Sie muss es wissen, denn sie arbeitet unter anderem mit ihrer kolumbianischen Kollegin Claudia Tribín beim Verein Xochicuicatl. Was für Deutsche ein Zungenbrecher ist, ist für spanischsprachige Menschen die erste Anlaufstelle bei Problemen in ihrer neuen Heimat. Sie kommen – meist mit spanischem Pass aus Spanien, Lateinamerika und Rumänien – in die Winsstraße, weil sie verzweifelt sind.

90 Prozent der Hilfesuchenden haben laut Vereinsstatistik ein sehr geringes Einkommen, oft unter Hartz-IV-Niveau, oder sie befinden sich in Arbeitsverhältnissen auf dem „informellen Arbeitsmarkt“, wie es in einer Broschüre des interkulturellen Netzwerks heißt. 1200 Gespräche haben die Xochi-Mitarbeiterinnen im vergangenen Jahr mit Betroffenen geführt. Herausgefunden haben sie dabei, dass 70 Prozent der Migranten in beengten Verhältnissen wohnen. 60 Prozent sehen sich in einer schwierigen psychische Situation, weil sie in Einsamkeit und Isolation leben oder eine Krankheit haben. 

Mit dem erhofften Milch-und Honig-Paradies hat die Realität vieler Menschen nach der Auswanderung also wenig gemein.

 

Blindes Vertrauen in die Vermittlung

 

Ihren ersten Kontakt nach Deutschland haben die Meisten über das Internet geknüpft. Entweder über anonyme Anbieter auf dubiosen Webseiten oder mit Hilfe von Facebook über jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt, der schon länger in Berlin ist und Spanisch spricht. „Es gibt ein blindes Vertrauen und viel Unwissen. Niemand denkt, dass derjenige, der auch deine Sprache spricht, dir etwas Böses will“, sagt die psychosoziale Beraterin Oelsner.

Beim interkulturellen Verein Xochicuicatl lernen spanischsprachige Frauen auch Deutsch.

Foto: Anja Mia Neumann

 

Unter der Hand vermitteln diese Menschen den Einwanderern dann Wohnungen und Jobs. „Ein kleines Zimmer zur Untermiete kostet schon mal 400 bis 500 Euro“, meint Koordinatorin Tribín. „Oft ist die Situation so: Papa, Mama, zwei Kinder in einem Zimmer oder zwei.“

 

Überstunden in Restaurants, auf dem Bau und in Hotels

 

Wohnungen für viel Geld und mit wenig Quadratmetern. Bei den Jobs ist es genau andersherum: Die gibt es für wenig Geld und viel Arbeit. Besonders beliebt sind bei Männern Minijobs in der Küche eines Restaurants oder Cafés – gerne lateinamerikanisch oder spanisch, so dass das Ambiente stimmt. Beim Kochen und Abwaschen fallen viele Überstunden an. Auch Schwarzarbeit auf dem Bau gebe es immer wieder in Prenzlauer Berg, wissen Oelsner und Tribín aus ihren Gesprächen. Und die Frauen? „Einige arbeiten zum Beispiel in der Hotellerie als Reinigungskraft“, sagt Tribín. „Offiziell putzen sie in einem Minijob 20 Stunden pro Woche. Tatsächlich sind es aber 60 Stunden.“

Dabei sind Menschen mit spanischem Pass vergleichsweise gut dran in Deutschland. Denn das heißt, dass sie ohne allzu bürokratische Hürden bleiben und versuchen dürfen, sich hier ein Leben aufzubauen. Das tun denn auch immer mehr in Prenzlauer Berg: Die Zahl der Ausländer, die in den letzten vier Jahren ins Viertel gekommen sind, ist um mehr als die Hälfte gestiegen. Vor allem durch Menschen aus Spanien, Frankreich und Italien.

 

Trotz der schwierigen Lebensumstände kein Zurück mehr

 

Eines der größten Probleme sind mangelnde Sprachkenntnisse. Die wollen zwar viele beheben, doch gerade sie machen anfangs den Start schwierig. Das zeigt sich beispielsweise beim Formularwust. Sich beim Bürgeramt anmelden oder mal eben einen Kindergeld-Antrag ausfüllen – damit fühlen sich viele überfordert. Das weiß auch die Integrationsbeauftragte in Pankow, Katarina Niewiedzial. Sie will deshalb beim Bezirksamt in der Fröbelstraße ein „Welcome Centre“ ins Leben rufen, an das sich Migranten gezielt wenden können.

Denn bislang verlassen sich viele Einwanderer lieber auf ihre Landsleute und zahlen ihnen Geld dafür, dass sie sie zum Bürgeramt begleiten, einen Kindergeld-Antrag für sie ausfüllen oder Formulare übersetzen. Bis zu 150 Euro könne ein solcher Einsatz kosten, berichten Tribín und Oelsner vom Migranten-Verein. Und das Ergebnis der Übersetzung sei nicht selten schlecht. Oft kämen Frauen mit völlig falsch ausgefüllten Anträgen und Bescheinigungen in die Xochi-Sprechstunde. Auch die Unkenntnis bleibe groß: „Viele denken, dass die spanische Krankenkassenkarte überall gilt.“

Gegen die Unwissenheit helfen nur Informationen, auch von offizieller Seite. „Es würde schon helfen, wenn es im Bürgeramt eine kurze Information gäbe: ‚Was muss ich machen in den ersten drei Monaten‘ auf mehreren Sprachen“, sagt Oelsner. Denn letztlich gibt es für viele Migranten trotz der schwierigen Lebensumstände kein Zurück mehr. „Ein Ticket nach Lateinamerika zum Beispiel ist zu teuer“, sagt die Kolumbianerin Tribín.

„Außerdem wollen sie ihr Gesicht und ihre Träume nicht verlieren.“ Stattdessen leben sie lieber weiter in einem zu kleinen Zimmer und arbeiten für zu wenig Geld.

 

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