Gegen den Strom

von Juliane Schader 8. Oktober 2014

Mit zwölf Jahren beschloss Tim Eisenlohr, aus den Thälmann-Pionieren auszutreten, mit vierzehn wurde er von der Stasi verhaftet: Über eine Jugend in der Opposition und ein Jetzt unter Islandpferden.


Wenn man Tim Eisenlohr heute anruft, kann man ihn schon mal auf der Weide erwischen. Seit fast zehn Jahren arbeitet der gebürtige Berliner auf der Nordseeinsel Amrum mit Islandpferden. Pferdezucht, Reitunterricht, Standritte, und das alles da, wo andere Urlaub machen, das ist sein Alltag. Doch schrittweise wird der Betrieb gerade abgewickelt. Eisenlohr möchte zurück aufs Festland und damit auch ein Stück zurück zu dem Leben, auf das er sich als Jugendlicher eingelassen hat.

Gerade einmal zwölf Jahre alt war er, als er 1985 beschloss, nicht länger bei den Thälmann-Pionieren mitmachen zu wollen, in denen in der DDR Kinder der vierten bis achten Klassen organisiert waren. „Mir war vom Auftreten, der Uniformität, der Gleischaltung her zu nah dran an der Hitler-Jugend“ erzählt er heute. Damals lebte er mit seiner Familie in Treptow; die Eltern brachten ihren fünf Kindern schon früh die jüngere deutsche Geschichte nahe. Die Mitgliedschaft in einer Massenorganisation kam für Tim danach nicht mehr in Frage. „Mein Austritt war ein kleiner Skandal, und in der Schule hat man mich deswegen ganz schön unter Druck gesetzt. Aber ich wusste ziemlich genau, was ich wollte und was ich nicht wollte.“ Die Eltern, die Eisenlohr als „früher 101-prozentige Kommunisten, die zu der Zeit aber schon kritischer waren“ beschreibt, hielten ihrem Kind den Rücken frei.

 

Freiheit unterm Kirchendach

Auch als ihr Sohn zwei Jahre später Kontakte zu Bürgerrechtlern knüpfte, ließen sie ihn gewähren. Auf der Suche nach Freiräumen war Eisenlohr bei der Umweltbibliothek gelandet, die im Keller des Gemeindehauses der Zionskirche untergekommen war. Hier trafen sich die Friedens-, Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung Ost-Berlins. Hier konnte man Bücher und Zeitungen bekommen, die eigentlich verboten waren; es gab Lesungen, Konzerte und Filmvorführungen. Und hier wurden auch die Umweltblätter gedruckt – eine Samisdat-Zeitschrift zu Umwelt- und Friedensthemen, die in der staatlich gelenkten Presse sonst nicht vorkamen. Unter dem Dach der Kirche durfte die Publikation – eigentlich nicht viel mehr als ein paar eng mit Schreibmaschine beschriebene Blätter – erscheinen.

Auch wenn unter dem Schutz der Gemeinde mehr möglich war als an anderen Orten in der DDR, war doch nicht alles, was in der Umweltbibliothek geschah, aus Sicht der Machthaber legal. Zwar versuchten die anderen Mitglieder der Bibliothek den 14-jährigen Tim von manchem fern zu halten. Doch er mischte überall mit, übernahm Bibliotheksdienste und las sich durch die kritische Literatur. „Heute würde man sagen, ich war ein Nerd“, sagt Eisenlohr. Statt sich in Computerthemen zu verlieren, stürzte er sich auf Geschichte und Politik. Wie die Anderen auf den jugendlichen Mitstreiter reagierten? „Für die war ich ein bisschen das Maskottchen.“

Eine Sonderrolle, die ihn jedoch nicht davor bewahrte, in der Nacht des 24. Novembers 1987 von der Staatssicherheit einkassiert zu werden.

 

Ton Steine Scherben versus die Stasi

„Meine Eltern waren in Leipzig und ich konnte daher spät abends noch in der UB beim Drucken der Umweltblätter dabei sein. Wir waren zu fünft im Keller, die Stimmung war gut, und im Hintergrund lief ,Keine Macht für Niemand’ von Ton Steine Scherben, als plötzlich bewaffneten Leute den Raum stürmten. ,Maschinen aus, an die Wand!’ wurde gerufen und mit Taschenlampen geleuchtet, obwohl es total hell war im Raum. Ich denke oft darüber nach, warum ich da nicht vor Angst gestorben bin. Aber es war wohl zu absurd: Die Taschenlampen im hellen Licht. Die Waffen, während wir so was von unbewaffnet waren. Die Musik, mit der die Stasi offenbar nichts anzufangen wusste. Später wurden wir einzeln zum Verhör weggefahren. “

So erinnert sich Eisenlohr an diesen Abend, an dem die Stasi ihre Aktion „Falle“ durchzog. Eigentlich wollte diese die Oppositionellen bei der Produktion des illegalen Grenzfalls, der Zeitschrift der verbotenen Initiative für Menschenrechte, überraschen, der tatsächlich später noch gedruckt werden sollte. Doch es lief nicht, wie vorgesehen, und beim Zugriff konnte sie nur die legal gedruckten Umweltblätter sicherstellen.

Der Schlag gegen die Opposition war damit nicht nur misslungen. Vielmehr sah sich die DDR-Führung danach mit einer ungewollten Aufmerksamkeit konfrontiert. Denn mit dieser Aktion hatte sie den Burgfrieden zwischen Kirche und Staat gebrochen und war erstmals in kirchliche Räume eingedrungen. Zudem wurden Leute verhaftet, gegen die sie nichts in der Hand hatte. Über die Westmedien erfuhr die breite Öffentlichkeit von den Vorgängen; in Ost-Berlin solidarisiert man sich mit dem Festgenommenen und organisiert in der Zionskirche eine Mahnwache für deren Freilassung. „Das war der Startschuss für alles, was danach kam“, meint Eisenlohr.

 

„Für mich war klar: Ich verrate da nichts“

Er selbst wurde am Vormittag des 25. Novembers nach fast acht Stunden Verhör in der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße als Erster wieder freigelassen. Im Verhörprotokoll lässt sich nachlesen, wie gelassen der 14-Jährige in der strapaziösen Situation geblieben ist. Namen? Grenzfall? Kritik am Staat? Er wisse von nichts, sondern sei nur allgemein an der Umwelt interessiert, lautete seine Antwort. „Ich hatte damals Vorbilder wie Sophie Scholl, mit deren Leben ich mich beschäftigt hatte. Für mich war ganz klar: Ich verrate da nichts.“

Und danach? Machte Tim Eisenlohr weiter wie bisher – und das, obwohl der Druck in der Schule auf ihn zunahm und manche seiner Freunde sich von ihn abwandten. „Ich war damals gern gesehener Gast im Lehrerzimmer und wurde oft auf meine nicht vorhandene Zukunft hingewiesen. Aber das hat mich irgendwie nicht interessiert.“

Dass Eisenlohrs Engagement in der Opposition schon vor dem Mauerfall ein Ende hatte, hatte andere Gründe: Seine Mutter war an Krebs erkrankt und im Sommer 1989 wurde der Familie nach langem Warten die Übersiedlung nach West-Berlin gestattet, wo man sich bessere Behandlungsmethoden erhoffte. Doch für seine Mutter kam das zu spät. Trotzdem stürzte sich Eisenlohr wieder ins politische Engagement – atomare Abrüstung, die Lage in der dritten Welt, Themen gab es genug, und nun endlich auch die Möglichkeiten, sich zu organisieren, zu demonstrieren und zu publizieren. Den Fall der Mauer habe er da mehr am Rande mitbekommen, erzählt er.

 

Zusammenhalt unter Druck

Doch dann, nach Schule und Zivildienst, war es einfach genug. „Irgendwie bin ich mit den neuen Rahmenbedingungen nicht klar gekommen; ich habe mich darin verloren“, meint er heute. Stattdessen begann Eisenlohr, sich für heilpädagogisches Reiten zu interessieren und landete erst im Südschwarzwald und später auf einem Hof voller Islandpferde auf Amrum.

Der Kontakt zur Umweltbibliothek zerfaserte darüber. Dass, was den Zusammenhalt ausgemacht habe, sei nach dem Fall der Mauer einfach nicht mehr dagewesen, sagt Eisenlohr. Unter dem Druck von außen seien Menschen mit ganz unterschiedlichen Zielen und Interessen zusammengerückt. Als der Druck weg war, sei die Bewegung auseinandergefallen. „Wofür machen wir das? Wofür lohnt es, zu kämpfen? Das war plötzlich unüberschaubar.“

Lange hat Eisenlohr seitdem sein politisches Engagement und auch die Erinnerung an seine Geschichte ruhen lassen. Erst seit kurzem geht er als Zeitzeuge zum Beispiel in Schulen. Zudem beginnt er nun ein Bachelor-Studium in Politik, Wirtschaft und Philosophie. Die Pferde auf Amrum werden derweil schrittweise verkauft. Einen Job bei einer Organisation mit politischem Auftrag, etwa einer NGO oder NPO, könne er sich vorstellen, meint Eisenlohr.

 

Lesen Sie hier weitere Texte aus der Reihe zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.

2. Teil: Manfred Kristen war zur Wende Polizist in Prenzlauer Berg. Die Grenze der DDR beachtet er bis heute.

3. Teil: Reinhard Fuhrmann saß als „Republikflüchtling“ in Hohenschönhausen. Später wurde er vom Westen freigekauft. Den Mauerfall erlebte er dennoch in Ost-Berlin. 

4. Teil: Holger Kulick brachte als ZDF-Reporter die DDR in die Wohnzimmer in Ost und West. Heute beschäftigt ihn die Aufarbeitung der Stasi-Akten.

5. Teil: Günter Wehner wurde 1953 von Wilhelm Pieck persönlich in die SED gebeten. Später war er Geschichtslehrer, Armeenlenker und Macher des Traditionskabinetts im Ernst-Thälmann-Park. Mit dem Mauerfall kam die Frührente; als Historiker ist er weiter im Dienst.

Und hier erklären wir, warum es diese Reihe gibt: Warum die Wende in Prenzlauer Berg auch heute noch ein Thema ist, bei dem keineswegs nur Einigkeit herrscht.

Das könnte Dich auch interessieren

Hinterlasse einen Kommentar