„Ich wünsche mir, dass alle Investoren dieses Buch lesen“: Auf einem Spaziergang durch den Kollwitzkiez sprachen wir mit Synke Köhler über ihren Roman „Die Entmieteten“ und warum dieser aktueller denn je ist.
„Die Bepflanzung war hier früher auch ganz anders“: Ich treffe Synke Köhler an einem feuchtkühlen Morgen auf dem Bürgersteig vor dem Wasserturm, im Herzen des Kollwitzkiezes – einem Viertel, das sich in den letzten zwanzig Jahren unübersehbar verändert hat. Hier spielt ihr Debütroman Die Entmieteten, der in diesem Herbst erschienen ist und eine Geschichte erzählt, die man so auch in der Tagespresse lesen könnte:
Sehr geehrte Fam. Dieter Sonntag,
da der Wohnblock in der Marner Straße 9-13 nicht mehr den heute geltenden Wohnbedürfnissen entspricht, planen wir umfangreiche Umbaumaßnahmen. Ihre Wohnung in der Marner Straße 13 wird im Zuge des Um- und Neubaus vollständig abgerissen, eine Kündigung des Mietverhältnisses ist somit unumgänglich.“
Als die Bewohner*innen des Hauses, einem Gebäude aus den 1960er Jahren, den Brief der Hausverwaltung in den Händen halten, bricht für einige eine Welt zusammen: Manche wohnen seit Jahrzehnten in derselben Wohnung, sind in dem Kiez am Wasserturm aufgewachsen oder alt geworden, mit Nachbarschaft und Umgebung eng verflochten. Und jetzt soll das Haus abgerissen werden, um einem schicken Neubau mit luxussanierten Eigentumswohnungen Platz zu machen? Wie findet man denn heutzutage in Berlin in so kurzer Zeit ein bezahlbares neues Zuhause?
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Während eines der älteren Ehepaare die Gunst der Stunde nutzt und sich mit der Abfindung eine neue Bleibe an einem ruhigeren Ort sucht, gehen die verbleibenden Mieter sprichwörtlich auf die Barrikaden: Mit künstlerischen Interventionen und Aktionen versuchen sie, ihre Entmietung hinauszuzögern. Doch der Hauseigentümer hat seine eigenen Pläne und nutzt jedes rechtliche Schlupfloch für noch ausgefallenere Schikanen – eine abgestellte Heizung und nicht abgeholter Müll zählen noch zu den harmloseren. Mit dem Fortschreiten der Entmietung müssen sich die Bewohner*innen aber die Frage stellen: Ist es den Kampf wirklich wert oder sollte man vielleicht doch die Segel streichen und ausziehen?
Die Marner Straße gibt es nicht, auch das Haus und die Charaktere sind der Phantasie der Autorin entsprungen – könnten jedoch genau so existiert haben. Für ihre Recherche zu dem Roman, den sie bereits 2012 begonnen hat, sprach sie mit Freunden und Bekannten, die derartiges oder ähnliches erlebt haben – und nicht zuletzt kennt sie sich mittlerweile aus eigener Anschauung mit problematischen Vermieter-Mieter-Beziehungen aus. „Da hat mich mein eigener Roman sozusagen eingeholt“, erzählt sie mit einem Lachen. Synke Köhler selbst wohnt seit zwanzig Jahren in Friedrichshain, und auch wenn ihr Kiez ebenfalls zunehmend von Gentrifizierung und Verdrängung betroffen ist, hielt sie Prenzlauer Berg für den passenderen Ort für ihr Buch.
Kein Wenderoman
Seit den späten 1980er Jahren kommt Köhler, die selbst in Dresden aufwuchs, regelmäßig in den Stadtteil; sie hat die Umwälzungen, die vor allem seit dem Mauerfall vonstatten gingen, lange beobachtet: „Früher war hier richtig viel los, ganz viele Cafés und Clubs und junge Leute, die etwas verändern wollten“. Es gab viele Ideen und günstige Wohnungen in den unsanierten Altbauten. Als die Investoren nach und nach das Potential des Kiezes entdeckten, wendete sich das Blatt. So auch für die fiktiven Bewohner der Marner Straße:
Es war nicht das erste Haus im Prenzlauer Berg, das entwohnt wurde, der Block war sogar einer der letzten, der bisher noch nahezu ungeschoren davongekommen war, keine Sanierungsmaßnahmen, keine Umbauten. […] Ganz Berlin wurde entwohnt. So kam es einem zumindest vor. Die Menschen wurden ausgetauscht. Wurden separiert, hier die mit Geld und hier die ohne.“
Ihr sei es darum gegangen, den Menschen, die aus ihrem Zuhause vertrieben werden, eine Stimme zu geben, betont Köhler, während wir an einem eleganten Neubau vorbei spazieren, der auch an einer Straßenecke in Paris stehen könnte. Und obwohl die Geschichte der Charaktere teilweise bis in die DDR zurückreicht, spielt die Debatte um „Ur-Berliner“ und „Zugezogene“ für sie und ihren Text keine große Rolle – einen Wenderoman habe sie auf keinen Fall schreiben wollen, ihr sei die Unterscheidung in Ost und West nicht wichtig, betont sie.
Literarische Revolte
Was nicht bedeutet, dass ihre literarischen Figuren nicht das eine oder andere Ressentiment gegen die Neuberliner hegen: So freut sich zum Beispiel Grozki, ein alternder DDR-Musiker und Bohemien, dass die nach der Wende sanierten Häuser teilweise bereits wieder Schäden wie bröckelnden Putz an den Fassaden aufweisen. Auch im weiteren Verlauf des Romans wird die Verflechtung von Prenzlauer Berg mit der eigenen DDR-Vergangenheit immer wieder, explizit oder zwischen den Zeilen, thematisiert – ohne dabei verklärende Nostalgie aufkommen zu lassen.
Mit ihrem ebenso humorvollen wie ernsthaften Romandebüt passt sich Synke Köhler sehr gut in die aktuelle „Gentrifizierungsliteratur“ ein, zu der unter anderem Anke Stelling mit ihrem preisgekrönten Roman Schäfchen im Trockenen oder Enno Stahls Sanierungsgebiete gehören – alle drei Romane sind darüber hinaus in der Nähe von Wasserturm und Kollwitzplatz angesiedelt. Der Prenzlauer Berg als Brennglas für die literarische Revolte?
„Ich wünsche mir, dass alle Investoren dieses Buch lesen“, sagt Synke Köhler, vielleicht hätten sie dann mehr Mitgefühl mit den Menschen, denen sie ihr Zuhause teilweise gewaltsam entreißen. Denn wie in ihrem Roman gilt auch im echten Leben: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Synke Köhler: Die Entmieteten.
Satyr Verlag, 2019
Gebunden, 253 Seiten, 23,- Euro