Hinter all diesen Fenstern

von Juliane Schader 11. September 2013

Was weiß man schon über die Winsstraße? Radiomoderator Knut Elstermann hat der Straße seiner Kindheit hinter die Fassade geschaut und ein Geschichts- und Geschichtenbuch geschrieben. 

Man guckt diesen Häusern ja immer nur vor die Fassaden. Im Falle der Winsstraße sind diese mittlerweile vorbildlich saniert und glatt poliert, was jedoch zur Folge hat, dass sie sich über ihre Vergangenheit ausschweigen. Viele kennen die Gedenktafel für den Showmaster Hans Rosenthal, der im Haus Nummer 63 aufgewachsen ist. Doch wer mehr über die Winsstraße erfahren möchte, muss sich schon die Mühe machen, mit den Menschen hinter den Türen zu sprechen.

 

Zurück in der Straße der Kindheit

 

Dass sich das durchaus lohnt, beweist Journalist und Radiomoderator Knust Elstermann. Er selbst wuchs in den 60er Jahren in der südlichen Wins im Haus Nummer 2 auf. Ein Jahr lang hat er sich im Auftrag des be.bra Verlags mit der Straße seiner Kindheit, ihren früheren und jetzigen Bewohnern, aber auch seiner eigenen Familiengeschichte beschäftigt. „Meine Winsstraße“ heißt das Buch, das dabei entstanden und nun in der Reihe „Berliner Orte“ erschienen ist.

Die Winsstraße führt, Elstermann schreibt es selbst, „abseits der großen Magistralen (…) eine stille, unauffällige Existenz.“ Zwischen 1870 und 1910 wurden ihre Häuser erbaut, benannt wurde sie nach Thomas Wins, einem Berliner Bürgermeister des 15. Jahrhunderts. Anders als etwa im Kollwitzkiez gab es im Winskiez nie einen Platz, der das Zusammenleben prägte, keine herausragende soziale oder kulturelle Infrastruktur, nicht das eine dominante Gewerbe. Hier lebten normale Menschen mit normalen Jobs in normalen Häusern. Indem Elstermann sich mit Bewohner verschiedener Jahrzehnte trifft und deren Geschichten zusammenstellt, schafft er ein wunderbares Portrait des Lebens in Prenzlauer Berg abseits der Extreme, aber nicht ohne Besonderheiten.

 

Lebenskünstler und Lebensretter

 

Da ist Ursula Kriese, kurz Uschi genannt. Elstermann trifft sie im Café und Kieztreff La Bohème, der aus den Ruinen der Pleite gegangenen gleichnamigen Boutique entstieg. Uschi ist eine typische DDR-Überlebenskünstlerin, die von der Säuglingsschwester bis zur Wirtin im Brecht-Keller alles gegeben hat. „Wenn ich an etwas hänge, dann will ich, dass es genauso bleibt“, sagt sie im Gespräch über ihren Laden. Ein wenig meint sie damit wohl auch ihren Kiez.

Thea Walter wuchs als Tochter des Kolonialwarenhändlers aus der Winsstraße 55 auf. Die heute 83-Jährige berichtet vom Gemeindeleben rund um die Immanuelkirche und vom Bombenkrieg und seinen Folgen. Von Pfarrer Johannes Schwartzkopff erfährt man so, der verfolgte Juden unterstützte und versteckte, sowie von Häusern mit aufgerissenen Fassaden und Leichenberg im Hausflur.

Daneben stehen die Begegnungen mit Immobilienunternehmern, mit frisch Zugezogenen oder mit den Machern des Wohnprojekts in der Nummer 60. Anfang der 90er Jahre taten sich Roxana und Lutz Wolf mit 25 weiteren Parteien zusammen, kauften das Haus und sanierten es zum größten Teil selbst. „Wir sind arme Schlucker“, sagt Lutz Wolff. „So eine Wohnung hätten wir uns unter normalen Umständen niemals leisten können.“

 

Parkplätze im Überfluss

 

Episode für Episode setzt sich so die Geschichte der Straße zusammen aus den Teilen der Erlebnisse einzelner. Zusammengehalten werden sie von Elstermanns persönliche Erinnerungen, die den Kitt des Buches bilden.

1962 zog der damals Zweijährige mit seiner Familie in die Winsstraße, die er zu der Zeit für über tausend Kilometer lang hielt. Beim Blick aus dem Fenster sah er auf der einen Seite den Fernsehturm in die Höhe wachsen, auf der anderen fiel sein Blick aufs Gasometer, das Jahre später dem Bau des Thälmann-Parks zum Opfer fiel. Auf der noch fast autofreien Straße parkte der blaue Trabant des Vaters; jeden Freitagnachmittag holte er für die Eltern im Zeitungsladen einen Stapel Zeitschriften mit Namen wie NBI, Freie Welt und Wochenpost ab. Manchmal machten im Hof ein Leierkastenmann oder ein Scherenschleifer Station. Der Krieg war vorbei, der Sozialismus im Aufbau. Dass die Errichtung einer Mauer ihm dabei half, spielt in Elstermanns Bericht keine Rolle.

Doch gänzlich unbeschattet bleiben seine Kindheitserinnerungen nicht. Denn in den Gesprächen mit seinem alten Nachbarn gerät er auf die Spur eines Familiengeheimnisses, von dem offenbar die halbe Straße wusste, nur er selbst nicht. Was das ist, wird hier nicht verraten – obwohl es dieses kleinen Spannungsbogens eigentlich gar nicht bedarf.

 

Bleibt alles anders

 

Denn die gut zusammengestellte Mischung aus Geschichte und Geschichten, kondensiert an dem Ort Winsstraße, fesselt auch so, und zwar auch Menschen aus anderen Kiezen.  

„Im Osten hatte der Verfall unerbittlich sein Werk verrichtet. Im Westen walten die vitalen Kräfte des Marktes“, schreibt Elterstmann an einer Stelle über das Haus mit der Nummer 61, aufgrund seines Fassadenschmucks von ihm Ritterhaus genannt. „Der Osten ließ das ruinierte Haus verdämmern, der Westen seine alten Bewohner verschwinden. Dieses Paradoxon schwebt über meiner alten Straße wie ein unsichtbares Schriftband: ,Ich wäre nicht mehr, die ich bin, wenn sich nicht alles gewandelt hätte.‘ Oder so ähnlich.“

Knut Elstermann: Meine Winsstraße, be.bra Verlag, Berlin 2013. 144 Seiten, 9,95 Euro.

 

 

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