Roboter mit Herz

von Matthias Heine 15. Januar 2011

Elzbieta Bednarska inszeniert Andrzej Stasiuks „Nacht“ im Ballhaus Ost.

Russen stecken die Hühner in den Topf, ohne ihnen vorher die Federn auszurupfen. Sie wissen noch nicht einmal, dass man die Tiere erst töten sollte. So jedenfalls erinnern sich die polnischen Mütter und Großmütter in Andrzej Stasiuks Theaterstück „Nacht“ an den Durchmarsch der Roten Armee 1944. Vergleichbare Legenden existieren in Ostdeutschland, wo man sich erzählt, dass russische Offiziere mit den angebotenen Kleiderbügeln für ihre Mäntel nichts anzufangen wussten, weil so etwas noch nie gesehen hatten.

 

Die Erinnerungen der Polinnen an die Deutschen sind zwiespältiger: Auf dem Weg nach Moskau beeindruckten sie offenbar nachhaltig durch ihre Eleganz, ihre immer geputzten Stiefel und ihre mörderische Perfektion. Der Offizier, der auf die Großmutter schoss, überzeugte sich noch nicht mal davon, dass sie tot war – er konnte sich gar nicht vorstellen, daneben geschossen zuhaben. Auf dem Rückzug sahen die Deutschen dann aber aus „wie Obdachlose“, ihre Stiefel waren dreckig und sie konnten vor Zittrigkeit kein Kind mehr erschießen – höchstens noch einen Erwachsenen.

 

Arbeit, Juwelen, Autos

 

Polen hat in den vergangenen Jahrhunderten mehrere solcher Durchmärsche in beiden Richtungen erlebt – zuletzt haben sich die Polen nach 1989 selbst zu Hunderttausenden in Richtung Westen aufgemacht, um dort zu arbeiten. Oder, wie der Text suggeriert, um Juwelen und Autos zu klauen – natürlich nur deutsche Fabrikate. Das 2005 in Düsseldorf und Krakau uraufgeführte Stück handelt von den Klischees, Vorurteilen und Mythen, die Deutschland und Polen übereinander kursieren – und natürlich auch von dem Grauen, das beide Nationen vor den Russen haben. Andrzej Stasiuk hat 2007 in einem Interview mit der „Welt“ dazu gesagt: „Pole sein, heißt, der letzte Mensch östlich des Rheins zu sein. Denn für einen Polen sind die Deutschen so etwas wie gut konstruierte Maschinen, Roboter; die Russen dagegen sind schon ein wenig wie Tiere.“

 

„Heutzutage kommt alles aus dem Osten.“

 

Einer jener Roboter erschießt in „Nacht“ einen jungen polnischen Räuber. Der Schütze ist ein deutscher Juwelier, der Polen im 2. Weltkrieg in beiden Richtungen durchquerte und das Zielen seitdem nicht verlernt hat. Verlernt hat nur sein Herz das Schlagen. Und deshalb braucht der alte Mann dringend ein Ersatzorgan. Er bekommt es ausgerechnet von dem Polen, den er selbst getötet hat. Alle Einwände, ob es denn kein deutsches Herz gebe, oder wenigstens ein italienisches oder schwedisches, sind zwecklos: „Heutzutage kommt alles aus dem Osten“ belehren ihn seine Ärzte.

 

In „Nacht“ führen die Seele des toten jungen Räubers und der Deutsche mit dem nunmehr polnischen Herzen ein Gespräch im Traum. Dass sie sich dabei fast freundschaftlich annähern, bevor sie möglicherweise beide endgültig in die Ewigkeit eingehen, ist eine hübsche versöhnliche Schlusspointe.

 

Avantgardetheater von Vorgestern?

 

Gespielt wird das alles im Ballhaus Ost von vier jungen Männern (Paolo Masini, Frank Müller, Richard Schnell, Johannes Stubenvoll). Als sie zu Beginn der Aufführung in langen schwarzen Röcken auf der Bühne hocken und dazu die Sängerin Sophie Tassignon und der Saxophonist Peter van Huffel extrem dissonant-ohrenschmerzende Klänge produzieren, fürchtet der Zuschauer einen Moment lang, mit Avantgardetheater von Vorgestern behelligt zu werden, wie es hinter der Oder-Neiße-Linie noch allzu lange in Mode war.

 

Doch die Röcke entpuppen sich als multifunktionale Kostümbestandteile, mit deren Hilfe sich die Schauspieler auch mal in kopftuchtragende polnische Kirchen-Omas verwandeln können. Und auch die Musik passt sich den vielen, vielen Geschichten an, wird sanfter und illustrativer. Die vier Darsteller sprechen alle Rollen, mal einzeln, mal chorisch, mal singen sie  – z. B. die Namen französischer Autos, die kein Pole mitnehmen will und für die dennoch die noch ärmeren Moldawier ihre Organe in den Westen verkaufen müssen. Das tun sie mit viel Verve, und Stasiuks Stück ist dabei so komisch und manchmal rührend, dass man nach einigen Minuten sowohl die gewöhnungsbedürftigen Kostüme als auch das karge Bühnenbild von Florian Guist – eine einzige schmale Metallrampe – nicht mehr als solche wahrnimmt. Wie von der Regisseurin Elzbieta Bednarska beabsichtigt, verwandeln sich diese Requisiten in der Vorstellung des Betrachters mal in deutsche Arztkittel im OP, mal in die Lederjacken junger Diebe, die mit gestohlenen Wagen durch ihre „halbwilden Städte“ rasen, und dann wieder in das dreistöckige Haus des Juweliers, dessen oberstes Stockwerk der dicke Mann aber aus lauter Herzschwäche schon lange nicht mehr betreten kann.

 

Eineinhalb Stunden braucht man, um ein Huhn zu braten – Russen vermutlich etwas weniger. In der gleichen Zeit hat die Seele des jungen polnischen Gauners im Ballhaus Ost ihre Ruhe gefunden. Darüber, dass er dafür sein Herz verlieren musste wie ein Huhn, das man zum Kochen ausnimmt (außer bei Russen, die essen es bestimmt gleich mit – glaubt man den polnischen Müttern) möchte man lieber nicht allzu lange nachdenken. Sonst käme man noch auf den Gedanken, Organtransplantation sei eine Art Kannibalismus. Das sind so Ideen, auf die einen dieses wunderbar wild fantasierende Stück bringt.

 

Ballhaus Ost, Pappelallee 15. Nächste Aufführungen 15. Januar, 3. und 4. Februar, jeweils 20 Uhr. Tel: 47 99 74 74. www.ballhausost.de

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