Von Karo-Sakkos und „Jammer-Ossis“

von Brigitte Preissler 27. Dezember 2010

Wie der gesamte Prenzlauer Berg hat sich auch die hier ansässige Kulturszene stark verändert. Die Serie „Vom Samisdat zu Suhrkamp“ zeichnet die Entwicklungen nach. Heute Teil 3.

(Für Neueinsteiger: Hier geht es zu Teil 1 und zu Teil 2 unserer Serie über den Wandel der Kulturszene in Prenzlauer Berg)

 

Teil 3

Andreas Rötzer zum Beispiel kommt aus München, und wer ein Ohr dafür hat, hört es ihm an. Rötzer ist Jahrgang 1971 und leitet den Verlag „Matthes und Seitz.“ Das ist ein kleiner, aber feiner und traditionsreicher Verlag, der vor über dreißig Jahren in München gegründet wurde und heute in der Göhrener Straße 7 sitzt; dort teilen sich eine Handvoll Mitarbeiter ein paar Räume im Parterre mit etlichen Regalmetern voller Bücher. Rötzer hat Familie, und ebenso gut wie über das Werk von Georges Bataille oder Jean Baudrillard kann man sich mit ihm über die schwierige Kindergartensuche in Prenzlauer Berg unterhalten. Er trägt karierte Sakkos und Brillen, die ihn sehr ernsthaft wirken lassen. Sicher liebt er Milchkaffee. 

Man ist deshalb nicht wirklich überrascht, wenn man hört, was ihm zur anhaltenden Ab- und Zuwanderung in Prenzlauer Berg so einfällt. Nämlich: „Gentrifizierung ist auch Substanzerhaltung. Die Zugezogenen haben die Häuser repariert. Das, was wir alle so lieben – die Gründerzeitfassaden – war doch schon halb zusammengebrochen. Jetzt kann es wieder schön vierzig Jahre vor sich hinrotten.“ 

 

Mythos? Welcher Mythos?

Rötzer gibt auch rundheraus zu, dass er rein gar nichts über den Mythos um den legendären, alten Prenzlauer Berg wusste, als es ihn 2003 hierher verschlug. Er suchte damals einfach nach einem neuen Zuhause für den Verlag, und eine Bekannte, die hier wohnte, zeigte ihm die Gegend. Das „Göhrener Ei“ mit dem begrünten kleinen Kreisverkehr gefiel ihm eben. 

Das ist nun allerdings schon ein paar Jahre her. Und ins Klischee vom schnöseligen, geschichtsignoranten Gentrifizierungsgewinnler aus Süddeutschland passt Rötzer deshalb noch lange nicht, wie die Programmausrichtung seines Verlags beweist. Denn inzwischen arbeitet er ausgesprochen gern mit Autoren und Übersetzern zusammen, die noch in der ehemaligen DDR groß wurden – in Prenzlauer Berg und anderswo. Mit Autoren wie Annett Gröschner, Gunnar Decker, Paul Gratzig oder auch Volker Braun. Mit dem Dramatiker und Hörspielautor Oliver Bukowski, dem Buchgestalter Grischa Meyer. Oder mit dem Übersetzer Ulrich Kunzmann. 

 

„Wie drücke ich das aus, was mich bewegt?“

Auf Literatur aus der ehemaligen DDR ist „Matthes & Seitz“ zwar keineswegs spezialisiert, der Schwerpunkt liegt eher auf Frankreich und Osteuropa. Trotzdem findet Rötzer, dass solche Autoren hervorragend ins Programm seines Hauses passen: „Wegen ihrer intellektuellen Reizbarkeit. Es sind oft sehr engagierte, politisierte Autoren – und das ist ja bei vielen ‚Wessis’ seit den 90er Jahren vorbei. Viele Schriftsteller, nicht nur aus dem Kiez, arbeiten heute eher marktorientiert, nach dem Motto: Wie kriege ich eine Schreibe hin, die Erfolg hat. Um die Frage ‚Wie drücke ich das aus, was mich bewegt?’ geht es immer seltener.“

 

Lesen, wenn die Kinder groß sind

Im Übrigen wird es ihm, dem erst kürzlich Zugezogenen, womöglich bald ähnlich ergehen wie manchem Urgestein von Prenzlauer Berg. Denn für den Fall, dass es den Hauseigentümern seines Verlagssitzes einfallen sollte, die Miete zu erhöhen, sagt er ganz klar: „Dann sind wir weg.“ Nicht nur Bert Papenfuß denkt eben darüber nach, wegen der billigeren Mieten bald nach Weißensee umzuziehen; unter den steigenden Quadratmeterpreisen in Prenzlauer Berg leiden alle Kreativen und Intellektuellen (und nicht nur sie). Für ein kleines, unabhängiges Unternehmen wie „Matthes & Seitz“ ist die Gegend eben längst nicht mehr so attraktiv wie noch vor einigen Jahren – obwohl das hier ansässige intellektuelle Bildungsbürgertum im Grunde eine geradezu ideale Nachbarschaft für den Verlag sein müsste. Doch es zögen eben mittlerweile auch viele potentielle Kunden und Autoren weg, meint Rötzer. Und viele der Hiergebliebenen befinden sich nun mal in einer recht speziellen Lebensphase: „Die lesen erst wieder, wenn die Kinder groß sind.“ 

Im Grunde gehört also auch Rötzer zu den Leidtragenden der viel beklagten Yuppisierung im Kiez. Wie er oder Bert Papenfuß, wie Henryk Gericke oder Thomas Wohlfahrt passen bei genauem Hinsehen ohnehin die wenigsten Prenzlauer Berger in die klischeebehafteten Kategorien, mit denen im Rahmen der Gentrifizierungsdebatte so gern operiert wird. Die Künstlerszene des Viertels ist und bleibt eine „Addition der Differenzen“: Dieser Titel einer unlängst erschienenen Dokumentensammlung über „Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989“ (hrsg. v. Uwe Warnke und Ingeborg Quaas, Verbrecher Verlag 2009) würde zur gegenwärtigen Situation nicht minder gut passen. Und für den Typus des so genannten „fremdenfeindlichen Jammer-Ossis“ im Kiez gilt letztlich dasselbe, was Bert Papenfuß über so genannte „reichen schwäbische Kolonisatoren“ sagt: „Wenn man mal welche kennen lernt, sind sie ja meistens ganz nett. Dann lernt man noch mehr kennen, und die sind dann wieder nett. Und so geht das immer weiter.“ 

 

Wer ist ein echter Bürger von Prenzlauer Berg?

Mit dem anhaltenden Kulturkampf zwischen Gentrifizierungskritikern und –befürwortern aber ist der heutige Stand jener Veränderungen benannt, die in Prenzlauer Berg seit den 80er Jahren „vom Samisdat zu Suhrkamp“ führten – und damit unserer aktuellen Artikelserie den Namen gaben. (Hier geht es zu Teil 1 und zu Teil 2 der Serie).

Es geht bei solchen Polarisierungen auch um kulturelle Herrschaftsansprüche; ja letztlich um nichts weniger als um die Frage, wer ein legitimer Bürger von Prenzlauer Berg ist und wer nicht. 

Wir meinen: Alle. Die Prenzlauer Berg Nachrichten werden die Diskussion um den anhaltenden kulturellen Wandel in diesem Stadtteil deshalb auch weiterhin begleiten und im Kulturteil Künstler aller gesellschaftlichen Milieus zu Wort kommen lassen: Junge und alte, zugezogene und alteingesessene, ost- und westsozialisierte. Es wird Besprechungen ernster und unterhaltender Arbeiten geben, wir werden Kapitalismuskritiker ebenso würdigen wie international erfolgreiche Bestsellerautoren. Die historische Tiefendimension wollen wir dabei auch künftig im Auge behalten. 

Zum Beispiel bei unserem Interview mit der Comiczeichnerin Ulli Lust, das wir in den nächsten Tagen hier veröffentlichen werden. Ihr autobiografischer Comic „Heute ist der letzte Tag vom Rest Deines Lebens“ (Avant-Verlag, Berlin 2009) schaffte es in diesem Jahr als einziger deutscher Titel auf die Longlist des wichtigsten europäischen Comicfestivals im französischen Angoulême. Zum Thema Gentrifizierung hat auch sie eine starke Meinung: Denn nach der Sanierung ihrer alten Wohnung lebt die gebürtige Österreicherin heute in einer Umsetzwohnung in der Lychener Straße. 

 

Info zur Serie:

Als Kreativenkiez ist Prenzlauer Berg legendär: Bereits zu Vorwendezeiten siedelten sich hier viele Künstler und Literaten an, vom schwachen Abglanz damaliger Zeiten zehrt das Viertel bis heute. Doch wie der gesamte Kiez hat sich auch die hier ansässige Kulturszene seit der Wende stark verändert. Alteingesessene Institutionen machten dicht, jüngere Autoren, Maler, Galeristen, Verleger, Musiker, Fotografen und Comiczeichner siedelten sich an. Viele von ihnen sind auch im Ausland erfolgreich – die Lokalkultur gewann an internationaler Ausstrahlung. Doch Gentrifizierung, verbunden mit einer speziellen Ost-West-Thematik, ist auch in der Kultur ein Thema. Die Prenzlauer Berg Nachrichten begleiten diese Veränderungen kritisch; in unserer dreiteiligen Artikelserie geht es deshalb um den anhaltenden Wandel der Kulturszene in Prenzlauer Berg.

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