Zu DDR-Zeiten war Prenzlauer Berg für seine Lyrikszene bekannt, heute kämpfen Orte wie das Haus für Poesie um ihr Überleben. Ein Besuch bei denen, die Poesie zurück in die Mitte der Gesellschaft holen wollen.
In Prenzlauer Berg, wo vor der Wende Dichter*innen wie Elke Erb und Detlef Opitz im Geheimen an ihren Schriften arbeiteten, wo improvisierte Literaturzeitschriften in Kellern gedruckt wurden, liegt heute, versteckt in einem Winkel der Kulturbrauerei, das im Jahr 1991 als „literaturWERKstatt berlin“ gegründete „Haus für Poesie“. Hier finden, inmitten von Clubs, Supermärkten und Fahrradverleihs, Veranstaltungen rund um die Lyrik statt. Katharina Schultens, Leiterin des „Haus für Poesie“, ist derzeit unter anderem mit der Vorbereitung des Poesiefestivals, das im Juni stattfinden wird, beschäftigt. Das Motto in diesem Jahr lautet: „No one is an island.“
„Momentan beobachten wir, dass unsere Gesellschaft an verschiedenen Stellen immer weiter auseinanderdriftet. Wir müssen wieder miteinander ins Gespräch kommen“, findet Schultens. Im Gegensatz zu anderen Zweigen der Literatur fällt der Lyrik ein solcher Gesprächseinstieg leicht. „Lyrik ist eine Kunstform, die unmittelbar auf aktuelle Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen reagieren kann. Poet*innen brauchen keine aufwendigen Materialien, nur ein Blatt Papier und einen Stift oder einen schnellen Instagram-Post“, so Schultens. Die Social-Media-Kanäle bieten heute direkte Wege für Lyriker*innen, ihre Gedichte zu veröffentlichen.
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Die Macht der Sprache
Neben Festivals und Veranstaltungen organisiert das Haus für Poesie auch Workshops für Kinder und Jugendliche. „Vielen Menschen wird in der Schule die Lyrik verleidet, weil man dort rein analytisch an Gedichte herangeht. Ich erlebe das gerade mit meinem zwölfjährigen Sohn. Bei unseren Veranstaltungen an Schulen versuchen wir, uns der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen anzunähern. Ein sprachlich raffinierter Rap bedient sich im Zweifel derselben stilistischen Mittel wie ein gutes Gedicht aus dem 18. Jahrhundert“, erklärt Schultens.
Durch Lyrik ließe sich sowohl die Macht von Sprache verdeutlichen, als auch ihre Gefahren. „Mit den Schüler*innen behandeln wir beispielsweise das Thema der sprachlichen Manipulation. Dadurch wird ihnen bewusst, wie sich Klischees und Vorurteile durch Sprache transportieren, ohne dass wir es merken, weil das unterschwellig passiert“, erzählt Schultens.
Auch das Netzwerk Lyrik e.V. hat seinen Sitz im „Haus für Poesie“. Seit 2017 engagiert sich der Verein bundesweit für die deutsche Lyriklandschaft, zu der nicht nur Dichter*innen, sondern auch Übersetzer*innen, Veranstalter*innen und andere Berufssparten beitragen. „Lyrik wird in Deutschland zu wenig gefördert“, findet Felix Schiller, Geschäftsführer beim Netzwerk Lyrik e.V. Dieser Umstand stünde im Missverhältnis zur wichtigen Rolle von Poesie in Kultur und Gesellschaft.
Poesie habe gesellschaftlichen Mehrwert. Sie verfeinere Emotionen, Wahrnehmungen und Sprachverwendung, stelle ein Instrumentarium bereit, um neue Ideen und Vorstellungen zu formulieren, andere Weltsichten kennenzulernen und das Denken in Bewegung zu bringen. „Diese Fähigkeit ist eine der Grundkompetenzen von Staatsbürger*innen in einer Demokratie. Lyrik verhilft den Menschen als Ausdruckswesen zu ihren je eigenen gestalteten Sprachformen“, so Schiller.
Lyrik in Not
Deshalb fordert das Netzwerk Lyrik e.V. eine eigene grundständige Förderung für die Lyriksparte und tritt mit diesem Anliegen an die Politik heran. Zwar gibt es dort breiten Zuspruch, konkrete Zusagen lassen bislang aber auf sich warten.
Der Literaturbetrieb leidet ebenso wie andere gesellschaftliche Bereiche unter der hohen Inflation und der Wirtschaftskrise. Für unabhängige Verlage werden die steigenden Druckkosten zum Problem. Besonders hart trifft das die Poet*innen, da die meisten von ihnen in diesen Verlagen publizieren, während die meisten großen Publikumsverlage den Lyrikbereich aus Kostengründen eingeschrumpft oder ganz gestrichen haben.
Schiller erzählt, dass sich die Arbeit des Lyrikbetriebs auf viele Ehrenamtliche und auf die Initiativen, die Einzelne geschaffen hätten, stütze. Diese Strukturen, wie kleine Verlage oder Festivals, seien allerdings fragil und zu wenig abgesichert. In der aktuellen Lage wird das besonders problematisch. „Die zunehmenden Lebenshaltungskosten wirken sich auf die Lyrikszene aus, weil viele der in ihr tätigen Menschen bereits prekär leben. Ehrenamtliche Arbeit kostet Zeit und Geld“, erklärt Schiller.
Prenzlauer Berg, Ort der Dichter*innen
Traditionell spielte Lyrik bereits in den achtziger Jahren eine wichtige Rolle in der Kiezkultur des Prenzlauer Berg. „Hier wirkten in der Literatur- und Kunstszene, z. B. im Umkreis des 1978 begründeten Literarischer Salon Ekkehard Maaß in der Schönfließer Straße 21 Dichter*innen wie Lutz Seiler, Elke Erb, Jan Faktor, Bert Papenfuß-Gorek und viele mehr,“ erzählt Schiller.
Obwohl es nach wie vor Orte wie das „Ausland“ in der Lychener Straße gibt, an denen Lyrik eine Bühne geboten wird, bedroht die um sich greifende Gentrifizierung auch die Stätten der Poesie. So sorgten vergangenes Jahr im Sommer Spekulationen über einen möglichen Verkauf der Kulturbrauerei durch die Eigentümergesellschaft TLG für Sorgen bei den Kreativen.
„Wir wissen nicht, was langfristig mit unserem Standort passieren wird. Orte wie dieser verschwinden zunehmend aus der Stadt; über die letzten zwanzig Jahre hinweg hat ein richtiger Ausverkauf stattgefunden. Es wäre schön, wenn der nicht ungebremst weiterliefe. Wir sind sehr gerne in diesem Haus und möchten bleiben,“ betont Schultens.
Poesie für alle
Außer von der Vernetzung mit Nachbar*innen profitiert das Haus für Poesie von Laufpublikum, das zufällig auf die Veranstaltungsstätte stößt. So berichtet Schultens von einer Szene aus dem Nachtleben: „Neulich hatten wir während einer Lesung die Situation, dass eine Gruppe junger Menschen vor unserem Fenster Krach gemacht hat und dann auch in unseren Vorraum gezogen ist. Wir befürchteten schon, es gebe Streit. Aber zu unserer Freude sind sie einfach hereingekommen, haben sich die Lesung angehört und im Anschluss sogar zwanzig Minuten mit der Autorin über Gedichte diskutiert. Dynamiken wie diese, Poesie zugänglich und nahbar zu machen, wünschen wir uns.“
Nicht nur die Wege, auf denen Poesie die Menschen erreicht, verändern sich. Auch die Kunstform selbst erlebt Metamorphosen. Die zeitgenössische Lyrik ist vielfältig und arbeitet interdisziplinär; mit Installationen oder Performances, mitunter im digitalen Bereich. Schiller weist darauf hin, dass es für diese Weiterentwicklung keine oder zu wenig Förderinstrumente gibt. Lyrik sei mittlerweile eine ganz eigene Kunstform, die mehr geworden ist, als eine Untersparte der Literatur.
Für die Zukunft wünscht sich Katharina Schultens vom Haus für Poesie eine von Dichtung durchdrungene Lebenswelt. Sie bezieht sich auf ein Projekt in Chicago, wo eine Zeit lang aus Straßenlaternen und Bäumen Gedichte erklangen, wenn man daran vorbeilief. Sie verweist auf Bildende Kunst, zum Beispiel Graffiti, die längst ein wichtiger Bestandteil des öffentlichen Raums und unseres Alltags ist. Dasselbe stünde dem geschriebenen Wort zu.
Mehr Literatur aus, in und über Prenzlauer Berg findet ihr hier!
Titelbild: Das Haus für Poesie / Foto: Tina Brüser