Mara

Springen, solange der Boden trägt

von Peter Schulz 9. November 2021

Mara Stones jüdischer Vater gelangt 1938 mit einem Kindertransport nach England. Wie sehr prägt die Familiengeschichte das eigene Leben? Von einer, die sich emanzipiert hat – vom Vater und der traumatisierten Elterngeneration.


Wenn ihr, vielmehr ihrem Vater, nicht die deutsche Geschichte in die Quere gekommen wäre, hieße sie heute wahrscheinlich Mara Kuh oder Mara Solomonica und wäre geborene Berlinerin. Aber so kam es nicht, denn Geschichte bestimmt Biografien. Diese Frau, die ihre Arme nicht ausbreiten muss, um den Gast herzlich zu empfangen, heißt Mara Stone und kam 1961 in Billericay zur Welt. Die Stadt in der englischen Grafschaft Essex, sagt sie, „ist voll hässlich, nur der Name klingt geheimnisvoll.“ Sie sagt aber auch mit einem schelmischen Lächeln: „Hitler habe ich zu verdanken, dass ich nicht Kuh heiße.“ Kuh war früher in Mittel- und Osteuropa einer von vielen Schmähnamen, die die Juden gegen ihren Willen bekamen. Mara aber hat sowieso mehr Beziehungen zum Namen Solomonica der rumänisch-jüdischen Seite ihrer Familie. Doch Stone, der aus der Geschichte des Vaters hervorgeht, ist ein Schutzschild, hat keine genaue Aussagekraft, outet sie nicht als jüdisch.

Ihr Vater wird 1922 als Michael Kuh in Berlin geboren. Seine Eltern sind Marianne Kuh, Sekretärin beim Malik-Verlag, und der Schriftsteller Alexander Solomonica. Seine Halbschwester Sophie, Kind aus einer früheren Beziehung seiner Mutter mit dem Psychoanalytiker Otto Gross, wird 1916 geboren. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 flieht die Familie nach Wien, in die Geburtsstadt der Mutter. 1938 gelangen Michael und die jüngere Schwester Eva, 1929 geboren, mit einem Kindertransport nach England. Ein Jahr später folgen die Mutter und Sophie auf gewöhnlichem Weg.

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Von Berlin über Wien nach England

Maras Vater Michael ist ein Kapitel für sich, vor allem im Leben der Tochter. Die besondere Beziehung der beiden ist zu spüren, wenn sie in ihrer Küche in Prenzlauer Berg sitzt und von ihm erzählt. Während Mara Tee zubereitet, erzählt sie, dass alles in ihrer Wohnung eher behelfsmäßig ist: Geschirrhandtücher dienen als Vorhang für offene Schränke, alte Kommoden sind angestrichen, das Bettgestell ist aus Pappe. Sie hängt an keinem Möbelstück, der Kleiderschrank im Schlafzimmer ist ihr eigentlich schon zu groß. Diese Wohnung ist trotzdem kein kalter Ort, sondern ein ästhetisch-provisorischer Traum.

Dass ihr Inventar keinen großen finanziellen Wert an sich hat, geht natürlich mit ihrer Familiengeschichte einher: Es muss schnell gehen, wenn man die Wohnung, die Stadt, das Land verlassen muss; an nichts darf man hängen, an keinem materiellen Besitz. Man nimmt nur sich mit und das muss genug sein. So floh die Familie ihres Vaters, erst nach Wien, dann nach England. Maras Vater Michael meldete sich zur Britischen Armee, nachdem er zu Beginn des Krieges als Enemy Alien – als feindlicher Ausländer – interniert worden war. Dadurch signalisierte er seine Loyalität zu England, gab seinen Namen ab und änderte ihn in Stone – angeblich, weil irgendwelche Vorfahren Stein hießen.

Die neue Welt hieß nun England. Und Michael Stone hatte ein schlechtes Gewissen, dass er dort glücklich war: Er war dem Schicksal seines Vaters, der als staatenloser rumänischer Jude kein Visum bekam, deportiert wurde und 1942 im Ghetto Litzmannstadt starb, entkommen. England war eine Befreiung für ihn. Kurz nach dem Krieg lernt Michael Stone die 18-jährige Majorie Usher kennen und bekommt mit ihr innerhalb von 12 Jahren sechs Kinder, als letztes 1961 Mara. Und diese Tochter erzählt nun wieder mit Schalk im Nacken vom Vater, der den Nazis von der Schippe gesprungen ist und es ihnen mit seiner Fruchtbarkeit heimgezahlt hat. Später hatte ihre Mutter noch ein Baby aus Afrika aufgenommen, da waren sie dann sieben Kinder.

 

Kindheit in Westberlin

Ein Jahr nach Maras Geburt geht Michael Stone nach Berlin, hofft auf Entschädigung, bekommt sie als unehelich geborenes Kind aber nicht. Er schlägt sich als Journalist durch, erst als Kulturkorrespondent bei der österreichischen Zeitung Die Presse, dann ab 1963 in West-Berlin für den Tagesspiegel und Die Welt. Zu Hause in England hat seine Frau und siebenfache Mutter permanent Geldsorgen, woraufhin er Geld aus Deutschland schickt, wann immer er kann. Die Familie ist zwar arm, aber Majorie ist schön und elegant. Die ersten Jahre wächst Mara ohne ihren Vater auf; die Mutter zieht irgendwann mit den Kindern nach London in eine Dreiraumwohnung in einem der ärmeren Viertel und bekommt bald darauf einen Nervenzusammenbruch. Michael und Majorie entscheiden, dass die Jüngste zu ihm nach Deutschland geht. Da ist Mara acht Jahre alt. Und entgegen aller Absprachen gibt ihr Vater sie nicht zurück.

Die zweijährige Mara auf dem Arm ihrer 13-jährigen Schwester / Foto: privat

 

Heute sitzt die erwachsene Tochter an ihrem Küchentisch und sagt; „Ich vermisse ihn oft, aber er und meine Mutter waren als Eltern ungeeignet.“ Beide sterben in den 90er Jahren. Bei ihrer Mutter, erzählt Mara, hatte sie zwei Heimaten: Die erste ist England, die zweite die Großfamilie. Und dann muss sie als 8-Jährige zu ihrem Vater nach Deutschland und kommt in einen bourgeoisen Intellektuellenhaushalt. Dass ihr Zimmer nur neun Quadratmeter groß ist, sollte nicht das Problem sein – „Ich war gewohnt, eng zu leben.“ –, aber dieser kleine Raum ist das Durchgangszimmer zur Küche. Und so stiefeln nicht nur alle durch Maras Zimmer, um zur Küche zu gelangen; im Bett riecht sie außerdem das Essen, wenn ihr Vater mal wieder mitten in der Nacht Essen kocht.

In diesem Zimmer schläft sie, bis sie auszieht. In der Zeit ist ihr nicht entgangen, dass der Vater nicht nur eine Hauptfrau namens Kuki, eine zehn Jahre ältere Malerin, sondern – so drückt Mara sich aus –, auch Nebenfrauen hatte. Mit der einen bekommt er drei Töchter, die heute so alt sind wie ihre eigene Tochter. Mara sagt: „Er hatte eine erweiterte Definition von Liebe. Mit Kuki hat er gelebt, ist viel gereist. Sie gab ihm Orientierung und Halt.“ Er konnte mehrere Frauen lieben und hatte für seine Tochter selbst eine feministisch-künstlerische Karriere vor Augen. Die aber beginnt – wie die meisten ihrer Geschwister nach und nach – ihren Weg der Emanzipation von den durch die Geschichte traumatisierten Eltern.

Mara fasst das so zusammen: „Mit 18 bin ich ausgezogen, mit 19 war ich schwanger, mit 20 hatte ich ein Kind und kein Geld.“ Das sagt sie keineswegs mit Verbitterung, das sagt sie, weil es so kam, wie es kam. Das Leben macht manchmal so etwas mit einem. Ihr Vater sieht sofort die feministisch-künstlerische Karriere gefährdet, wenn nicht sogar als beendet, bevor sie überhaupt begonnen hat. Er stellt die Zahlungen ein. Und was macht Mara? Sie holt mit Kind das Abitur nach und studiert danach Sozialarbeit. Das Berufsleben beginnt.

 

Der Prenzlauer Berg war sanft und langweilig

Elf Jahre ist Mara Beraterin in der Wohnungslosenhilfe. Danach nimmt sie sich eine halbjährige Auszeit und macht nicht, was die meisten machen. Mara reist nicht, um zu Entscheidungen zu kommen. Sie schreibt in der Zeit Gedichte, macht sich Notizen, gibt ein bisschen Englischunterricht und sagt nun am Küchentisch: „Ich brauche nicht mehr Nahrung, ich habe so viel Futter in mir.“ Nach dem halben Jahr wechselt sie in den Jugendnotdienst. Aufgrund ihrer Familiengeschichte gibt es nichts, was ihr fremd ist oder sie erschreckt. Vor zwölf Jahren dann wagt Mara den Schritt in die Selbstständigkeit und gründet ihre eigene Praxis als Beraterin, Supervisorin und Coach. „Ich springe, wenn ich weiß, dass der Boden mich trägt“, ist ihr Fazit zu diesen wichtigen Entscheidungen.

In den Prenzlauer Berg zieht Mara 2007, zwei Jahre vor der Praxiseröffnung. Eigentlich hatte sie eine schöne Wohnung in Charlottenburg, aber als ihre Beziehung zu Ende und die Tochter eigene Wege ging, war die Wohnung zu groß für eine Person allein. Und so wollte das Schicksal es, dass Mara sich in einen Mann aus Mitte verliebte. Da wollte sie nicht leben und bezog daher zum ersten Mal eine Wohnung allein – in Prenzlauer Berg. Ans Alleinleben musste sie sich gewöhnen, aber der Stadtteil machte es ihr leicht. Der Prenzlauer Berg war „sanft, vielleicht langweilig, aber sanft“, erzählt sie. Und als Frau fühlt sie sich hier geborgener und freier als in Charlottenburg. Mittlerweile, findet sie, ist auch dieser Ort rauer geworden, ihr Sicherheitsgefühl hat nachgelassen.

 

„Alt sein und schräg sein dürfen“

Sehr wahrscheinlich, erzählt Mara, wird sie diesen Stadtteil auch wieder verlassen. Ihr schwebt eine Alten-WG mit einer Freundin vor oder zwei Wohnungen in einem Haus. Das weiß sie noch nicht genau. Mara weiß nur, dass sie nach Schöneberg ziehen wird. Ausgerechnet auf einem Friedhof hat sie sich in diesen Bezirk verliebt. Im Januar dieses Jahres starb der Vater ihrer Tochter. Er wurde auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof in Schöneberg beerdigt. Im selben Monat starb auch 104-jährig Sophie, die Halbschwester ihres Vaters. Das Alter steht Mara noch bevor, aber sie hat eine Vorstellung, wie es sein soll, und sagt laut lachend: „Alt sein und schräg sein dürfen.“

So tragisch ihre Familiengeschichte auch ist, so anders ihre Kindheit zwischen England und Deutschland auch war, so ungewiss die Folgen mancher Entscheidungen in ihrem Leben waren – daraus ist keine Verbitterung entstanden. Sie weiß, dass die Arbeit in der Obdachlosenhilfe und im Jugendnotdienst mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hat, dass die Flucht der Familie sich auch in der Wohnung widerspiegelt. Aber alles bestimmt nicht ihr Leben. Man kommt nicht umhin zu denken: Diese Frau geht weiterhin ins Offene, sie ist weiterhin bereit für Veränderungen, doch nur wenn sie weiß, dass der Boden sie trägt.

 

Titelbild: Peter Schulz

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