Joggen

Platz da, hier komme ich!

von Christian K. L. Fischer 25. September 2020

Jahrelang hat unser Autor die Nase gerümpft über hechelnde Jogger, die ihm auf dem Bürgersteig den Weg abschnitten. Doch dann kam Corona – und er wurde einer von ihnen.


Der Jogger hat die Eigenschaft, sich zügig zu vermehren. Von Jahr zu Jahr tauchen mehr von ihnen in den Straßen auf und von Jahr zu Jahr scheint es, als würden sie sich nicht damit zufrieden geben, einfach nur Teil der Stadt zu sein. Mit wachsender Zahl scheinen sie auch einen Hoheitsanspruch zu entwickeln. So traben sie in asozialer Ignoranz mit starrem, leerem Blick, mal leichter, mal heftiger schnaufend und oft mit unansehnlichen Schweißflecken über die Gehwege und erwarten, dass ihnen Platz gemacht wird. Mal sind sie auf dem Weg zum Friedrichshain oder unterwegs in Richtung Jahn-Sportpark, mal geht es nur um den eigenen Block, mal auf ein paar Runden um den Helmi oder kreuz und quer durch den Thälmannpark.

Ihr Revier ist überall. Und das mittlerweile zu jeder Tageszeit. Morgens, mittags, nachmittags – abends erst recht und in so hoher Zahl, dass man sich nur noch in Sicherheit bringen will. Inzwischen toben sie sich auch nachts aus und erschrecken einen zu Tode, wenn sie um die Ecke gerannt kommen oder in völliger Dunkelheit vom Mont Klamott hinab rasen. Jogger vs. alle anderen, Karambolagen inklusive. Sie bewegen sich ohne Rücksicht auf Verluste, denn wie Autofahrer oder Radler gehen Jogger davon aus, dass die höhere Geschwindigkeit automatisch das Recht auf Vorrang beinhaltet. Mal ganz abgesehen von der moralischen Überlegenheit, die sie ausstrahlen. Platz da, hier komm ich!

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„Ich bin ein Teil der Horde geworden“

Als normaler Passant bleibt einem nur, hilflos festzustellen, dass es doch eigentlich Fußgängerweg heißt; vom Rennen ist nicht die Rede. Außerdem sind Parks Naherholungsgebiete – und dass Joggen etwas mit Erholung zu tun haben soll, kann mir niemand erzählen. Vor allem jetzt nicht mehr. Denn seit einigen Monaten bin ich selbst einer von ihnen: Ich bin ein Teil der Horde geworden.

Der Wandel passierte über Nacht und begann natürlich während des Corona-Lockdowns, der mir zu viel Zeit bot, sich mit mir selbst und meinen Mängeln zu beschäftigen. Doch wenn ich ehrlich bin, habe ich es eigentlich schon seit Jahren gewusst, es musste einfach irgendwann so kommen. Hilft ja nichts. Wenn dieser Sack aus Fleisch und Knochen noch ein paar Jahrzehnte funktionieren soll, dann muss er benutzt und bewegt werden, und nicht nur, wie in all den Jahren davor, träge missbraucht.

Also Schuhe gekauft, altes T-Shirt angezogen und einfach los. Augen zu und durch. Anfangs war es nicht nur eine Quälerei, sondern schrecklich peinlich. Plötzlich war ich selbst das gerade noch verhasste Wesen. Doch die Scham verschwand schnell. Nun atme ich alle drei Tage wie selbstverständlich tief die Abgase ein, als wäre es Bergluft und trabe über die Straßen, als wären sie ein Privatstrand oder ein einsamer Waldweg. Plötzlich blicke ich auf die anderen Läufer sogar mit einem Gefühl der Zugehörigkeit. Es ist schwer nicht jedem zuzunicken, der ebenfalls gerade joggt, denn man ist ja offensichtlich auf der gleichen Wellenlänge. Teil eines Clubs, einer verschworenen Gemeinschaft, die mehr weiß als die anderen.

 

Joggen als Ersatzreligion

Sicher, auch ich bin jetzt eine ästhetische Zumutung, wie ich da so meine Runden drehe. Stur geradeaus, und jeder, der meine Route blockiert, hat wohl falsche Vorstellungen von Priorität. Warum stehen einem so viele Menschen im Weg? Jetzt sind es die Fußgänger, denen wohl nicht ganz klar ist, was hier Vorrang hat: nämlich meine Gesundheit! Jeder, der nicht Teil der Bewegung ist, wirkt verdächtig. Während ich an ihnen vorbeiziehe, beginne ich meine schlendernden Mitmenschen nach und nach zu bemitleiden. „Die Ärmsten!“, denke ich. Sie wissen ja nicht, was sie sich antun, wenn sie einfach nur so durch die Sonne spazieren oder vom Einkaufen kommen. Ich würde am liebsten bei jeder Zwangspause an der Ampel gute Ratschläge zur Gesundheit erteilen, wie ein neu erweckter Christ, der plötzlich als Laienprediger die frohe Botschaft in die Welt bringen muss: Lauft, ihr Kinder, lauft auch ihr! Habt ihr die Heilslehre denn noch nicht vernommen?

Es sind also nicht nur zwei verschiedene Geschwindigkeiten, die hier jeden Tag aufeinanderprallen, sondern zwei verschiedene Weltsichten. In sich unversöhnbar. Bis es endlich auch Pop-Up-Spuren exklusiv für Jogger gibt, wird der Verteilungskampf um die Wege in der Stadt weitergehen, Verluste inklusive. Mit dem Unterschied, dass ich jetzt weiß, wer auf der richtigen Seite des Lebens läuft.

Also: Aus dem Weg und Platz da! Denn ob Blutdruck, Kreislauf, Übergewicht oder allgemeine Schlaffheit, ob auf ärztliche Anweisung oder aus eigener Einsicht: früher oder später werdet auch Ihr mit uns laufen.

Hilft ja nichts.

Ein Text von Christian K. L. Fischer

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