Das große Scheitern

„Das große Scheitern.“ Was soll das?

von Kristina Auer 3. Mai 2018

Zwei Freunde, ein gemeinsames Ziel: Menschen davon erzählen lassen, was in ihrem Leben so richtig in die Hose geht – vor Publikum. Das wollten wir genauer wissen.


Wer redet schon gern darüber, was er absolut gar nicht auf die Reihe kriegt? Genau, keiner. Zwei Freunde aus Prenzlauer Berg – einer Journalist, der andere Theologe – sagen diesem Umstand den Kampf an. Lars Christiansen und Heiko Kienbaum wollen mit ihrer Veranstaltungsreihe „Das große Scheitern“ Menschen dazu bewegen, über ihre größten Misserfolge zu sprechen – und zwar vor Publikum. An jedem Termin berichten zwei bis vier Menschen, was in ihrem Leben ganz gehörig schief gelaufen ist – oder immer noch schief läuft, sprich: Über alle großen und kleinen Erlebnisse, bei denen sie sich gescheitert fühlen. Sich auf das Scheitern statt auf die Erfolge konzentrieren, ist das nicht überkritisch und irgendwie deprimierend? Ganz im Gegenteil, sagen die Veranstalter. Da mussten wir mal nachhaken:

 

Ihr organisiert Gesprächsrunden, bei denen Menschen davon berichten sollen, was ihnen im Leben so richtig misslungen ist. Was soll das?

Heiko: Wir finden, dass unsere Gesellschaft eine neue, vernünftige Fehlerkultur braucht. Wir reden immer nur über unsere Erfolge. Dabei vergessen wir aber, dass die wirklich großen Erkenntnisse im Leben aus den Rückschlägen und schwierigen Zeiten resultieren. Genauso, wenn wir uns in unserem Umfeld umsehen: Wenn wir Menschen sehen, die wir für erfolgreich halten, sehen wir nur das Endergebnis, aber nicht den Weg dorthin. Leute, bei denen immer alles gut läuft, werden irgendwann arrogant und eingebildet. Deswegen wollen wir einen Rahmen schaffen, in dem diese Erkenntnisse geteilt werden.

Lars: „Das große Scheitern“ ist wie ein Gegenentwurf zu Instagram. Anstatt immer alles zu schönen, wollen wir das ganze Bild zeigen – quasi unter dem Motto #nofilter (lacht). Das Stichwort lautet Authentizität.

 

Und was ist mit dem Stichwort Optimismus? Ich dachte immer, man soll sich auf das konzentrieren, was gut läuft.

Lars:  Da sind wir schon bei einem anderen wichtigen Punkt: Wir bewerten immer alles, es ist entweder gut oder schlecht. Beim „großen Scheitern“ geht es aber nicht darum, sich aufs Negative zu konzentrieren, sondern sich erstmal mit seinem Leben so auseinanderzusetzen, wie es ist, ohne Wertung. Das Spannende ist ja auch: Wenn man Schwierigkeiten und Probleme einfach mal ausspricht, werden sie dadurch quasi automatisch kleiner. Wir machen auf jeden Fall keine Veranstaltung für Pessimisten.

Heiko: Im Gegenteil! Die Leute, die bei uns von ihrem Scheitern erzählen, schöpfen danach ganz neue Lebensenergie. Viele haben uns erzählt, sie fühlten sich viel motivierter und selbstbewusster und lassen sich beispielsweise von ihrem Chef nicht mehr so viel gefallen. Und die Zuhörenden auf der anderen Seite freuen sich über die Ehrlichkeit, mit denen die Leute aus ihrem Leben berichten. Es geht auch darum, Empathie für andere zu üben.  Wir wollen eine Kultur für den Austausch erschaffen, in der über verschiedene Lebensmodelle gesprochen wird.

 

Aber wir sind doch hier in Prenzlauer Berg. Hier sind doch alle erfolgreich, schön, bewusst und glücklich (hüstel)…

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Lars: (lacht) Prenzlauer Berg kann diese Veranstaltung besonders gut gebrauchen! Wir finden, der Stadtteil ist eine perfekte Kulisse dafür, mit lauter kernsanierten Häusern und nicht-kernsanierten Menschen drin. Ich glaube, hier ist der Druck besonders hoch, immer alles auf die Reihe zu kriegen und super erfolgreich zu sein – dabei sind die meisten mega gestresst. Klar, hier geht es wahrscheinlich vielen Leuten objektiv gesehen gut. Aber je größer die Fallhöhe ist, desto größer ist auch der Druck, seinen Status zu halten. Und je erfolgreicher die Leute sind, desto weniger wollen oder können sie über ihre Misserfolge reden. Das merkt man schon daran, wie schwierig es ist, Rednerinnen und Redner für „das große Scheitern“ zu finden. Deswegen haben wir auch erstmal damit angefangen, unsere eigenen Geschichten zu erzählen.

 

Ich wollte gerade fragen: Auf so eine Idee kommt man doch nur, wenn man selbst schon mal so richtig gescheitert ist, oder?

Heiko: Allerdings! Ich habe früher in Bonn gewohnt und hatte ein Unternehmen in der Immobilienbranche. Mit Anfang dreißig waren meine Frau und ich Vermögensmillionäre und haben im Luxus gelebt. Und dann haben wir – durch Übermut und Realitätsverlust – alles verloren. Das war 2013, unser drittes Kind war gerade unterwegs, und wir standen vor dem Nichts. Dann habe ich mir gedacht, ich mache jetzt was ganz anderes und setze meine Fähigkeiten für andere ein – und bin freier Priester geworden. Also, wer wirklich tiefe Erkenntnisse bekommen möchte, dem kann ich den absoluten Ruin nur empfehlen (lacht).

 

„Das große Scheitern“ findet ungefähr alle drei bis vier Monate statt, meist im Restaurant Kreuz und Kümmel in der Christburger Straße 13. Wann der nächste Termin ist, könnt Ihr auf der Facebook-Seite von „Das große Scheitern“ nachschauen. Die Veranstaltungen kosten 5 Euro Eintritt: „Wir wollen unbedingt, dass die Veranstaltung etwas wert ist“, sagt Lars. Die Offenheit der RednerInnen, die von ihrem Scheitern erzählen, soll wertgeschätzt werden. Außerdem wird der Wirt für die Bereitstellung der Räumlichkeiten entschädigt. Einen explizit religiösen Hintergrund gibt es laut den Veranstaltern nicht.

 

In unserer Reihe „Was soll das?“ fragen wir regelmäßig Leute, was das soll. Falls Euch etwas auffällt, bei dem Ihr Euch das schon immer gefragt habt, freuen wir uns über einen Hinweis an redaktion@prenzlauerberg-nachrichten.de.

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