Nicht nur zum 1. Mai rufen auch in Prenzlauer Berg immer wieder Plakate oder gesprühte Schriftzüge zum Klassenkampf auf. Aber wer fühlt sich von ihrer Ästhetik eigentlich angesprochen?
Revolutionäre Plakate und ähnliche Propagandamittel haben in Prenzlauer Berg immer etwas leicht Lächerliches. Denn in diesem Bezirk gibt es doch ohnehin nur noch drei Bevölkerungsgruppen, denen noch nie jemand eine Neigung zum organisierten Aufstand nachgesagt hat. Den immer mehr Kleinbürgern stehen immer weniger Rentner und Lumpenproletarier gegenüber. Zur letztgenannten Kategorie hätte Marx sowohl die entwurzelten Alkoholisierten gezählt, über die am Helmholtzplatz gerade mal wieder gestritten wird, als auch die letzten menschlichen Relikte irgendwelcher „Szenen“ der Vor- und Nachwendezeit – für Marx war das Wort „Lumpenproletariat“ geradezu bedeutungsgleich mit „Bohème“. Vom Lumpenproletariat erwartete er beim Umsturz gar nichts, er hielt es vielmehr für einen potenziellen Verbündeten der Reaktion. Dem Kiez ist also das revolutionäre Subjekt fast vollständig abhandengekommen.
Deswegen wirkte es wie Satire, als vor etwa drei Jahren über zahlreichen Klingelbrettern in Prenzlauer Berg ein mit der Schablone gesprühter Schriftzug zu lesen war, der lautete: „Folgende Bürger werden zum Klassenkampf aufgerufen:“ – was implizierte, dass alle Bewohner des entsprechenden Hauses sich nun eifrig in den Krieg der Klassen stürzen sollten. Doch wenn die Bürger sich erst einmal zum Klassenkampf aufraffen, kommt für die Linke meist wenig Erfreuliches dabei raus: Im besten Falle endet es wie 1919 im Herzogtum Braunschweig, wo ein Gegenstreik der bürgerlichen Schichten den Zusammenbruch einer kurzlebigen Roten Räterepublik beschleunigte. Schlimmstenfalls kommt es zum weißen Terror wie am Ende der Pariser Kommune, als die in Versailles versammelten Bürger die Stadt wieder in Besitz nahmen und massenhaft Revolutionäre abschlachteten. Weder das eine noch das andere werden sich die zum Klassenkampf aufrufenden Sprüher gewünscht haben.
Aber solche Wandpropaganda ist in Prenzlauer Berg ohnehin selten ein echter Handlungsaufruf. Auch diejenigen, die alle Jahre wieder zu Weihnachten den heimreisenden „Schwaben“ hinterherhöhnen, sie möchten doch in Sindelfingen usw. bleiben – denn: „Wir sind ein Volk. Und ihr seid ein anderes“ -, erwarten ja nicht, dass die Schwaben diesem Appell tatsächlich Folge leisten. Es handelt sich allenfalls um eine Art gedruckten ausgestreckten Mittelfinger, den man den Fremden zeigt, um ein bisschen Dampf aus der köchelnden Volksseele abzulassen.
Die Bürger das Gruseln lehren
Das gilt wohl genauso für die Plakate, die auch in diesem Jahr wieder für die „Revolutionäre 1. Mai Demo“ in Kreuzberg warben – beispielsweise am unteren Ende der Schliemannstraße. Denn die Autonomen konnten ja wohl nicht ernsthaft damit rechnen, irgendeinen Besucher des dortigen Biosupermarkts für ihren Aufmarsch zu rekrutieren. Sie weideten sich wohl eher an der Vorstellung, mit ihren Druckwerken die Bürger das Gruseln zu lehren.
Unfreiwillig verrät die Gestaltung der Mai-Plakate alles über die resignierte und abgekapselte Geisteshaltung, die ihnen zu Grunde liegt. Denn die darauf porträtierten Idealbilder autonomer Klassenkämpfer kommen dem Stil moderner Horrorcomics so nahe wie nie. Man ahnt, dass dahinter die Absicht steckt, junge Menschen in den Bilderwelten abzuholen, die sie von Computerspielen kennen. Mit den klassischen, revolutionäre Entschlossenheit signalisierenden Hackfressen, deren heroisch gereckte Kinne im vorigen Jahrhundert auf linken und rechten Mai-Plakaten zu sehen waren, lockt man heute vermutlich keinen 18-Jährigen mehr hinter dem Ofen vor. Vielleicht ist der Plakatkünstler sogar Student eines Berliner Studiengangs für Comics und Mangas.
Aber auf jeden Außenstehenden, der nicht mit den Zeichen der hippen Horrorästhetik vertraut ist, wirken die Figuren auf den revolutionären Mai-Plakaten zutiefst abstoßend und grotesk. Das gilt ganz besonders für die Frau (?) rechts, der der Künstler auch noch einen Schraubenschlüssel als Requisit eines lange schon fast vollständig aus Berlin verschwundenen Modell-Proletariats in die Hand gedrückt hat. Die grüne Gesichtsfarbe des mittleren Typen erinnert an den Hulk, jenes Monster, in das sich der atomar verseuchte Bruce Banner jedes Mal verwandelt, wenn er wütend wird. Die stumpfsinnige Totschlagmentalität des Hulk ist ziemlich sprichwörtlich. Als Vorbild für einen kühlen Kopf im Klassenkampf taugt er wohl kaum.
Risse in zentimeterdicker Hornhaut
Der Hulk ist ein Bewohner des Marvel-Comic-Universums. An eine andere Marvel-Figur erinnern die merkwürdigen Risse, die die Gesichter der drei abgebildeten Symbolfiguren durchziehen, als hätten sie Brandwunden oder als wäre ihre trockene, zentimeterdicke Hornhaut geplatzt. Damit sehen sie ein bisschen aus wie „Das Ding“, ein Wissenschaftler namens Ben Grimm, der durch den Einfluss kosmischer Strahlung in einen Kraftprotz mit versteinerter Haut verwandelt wurde.
Vor allem aber machen die drei Galionsfiguren des revolutionären 1. Mai einen extrem zombiehaften Eindruck. Die Leichenfarben Rot, Grün und Blaugrau, die unnatürlich verrenkten Posen, das teilweise doch sehr medusenhafte Haar und der starr den Betrachter fixierende Blick lassen an eher an George Romeros „Nacht der lebenden Toten“ denken als an die Walpurgisnacht. Natürlich zitieren die geballten Fäuste die Ikonographie klassischer Darstellungen von Arbeiterkämpfern aus dem 20. Jahrhundert. Aber was schon beim Thälmann-Denkmal nicht sehr human wirkte, sieht in der Kombination mit der Horrorcomic-Ästhetik heute endgültig schlimmer als unmenschlich aus. Nämlich untot.
Vielleicht ist das ja sogar Absicht. Denn seit einiger Zeit ist in der autonomen Szene ja der Slogan „Eat the Rich“ sehr populär. So läge es nahe, sich mit den menschenfressend lebenden Toten aus Romeros Film ironisch zu identifizieren. Aber zugleich denunzieren die Plakate die Mai-Demo auch als eine Erhebung von Zombies aus den Gräbern. Ewig sind sie verdammt, Rituale zu wiederholen, die irgendwann mal einen Sinn hatten. Vielleicht aber auch nie. Und für „reich“ und fressbar halten sie jeden, der mehr hat als sie. Ein Hirn beispielsweise.