Volksgemeinschaft Prenzlauer Berg

von Gustav Seibt 2. Mai 2011

Fiktive Adresse, realistisches Erzählen: Hans Falladas später Roman „Jeder stirbt für sich allein“ bietet politisch-moralische Heimatkunde. Der Aufbau-Verlag hat ihn zum ersten Mal in der Urfassung herausgebracht.


Eine Hausnummer 55 gibt es in der Jablonskistraße nicht. Die schmale Verbindung zwischen Prenzlauer Allee und Greifswalder Straße im heutigen PLZ-Gebiet 10405 hat nur 39 durchgezählte Nummern. Es ist daher als subtiles Fiktionssignal zu verstehen, wenn Hans Fallada in seinem letzten großen Roman „Jeder stirbt für sich allein“ – 1947 im neugegründeten Ost-Berliner Aufbau-Verlag erschienen – den Hauptschauplatz der Handlung gleich auf der ersten Seite in die Adresse „Jablonskistraße 55“ verlegt.

Trotz solcher zarten Verlängerung ins Erfundene sind Milieu und Figuren dieser ebenso spannenden wie erschütternden Widerstandsgeschichte aus den letzten Kriegsjahren des Dritten Reichs mit kaum zu übertreffender Deutlichkeit und Greifbarkeit gezeichnet. Man kann mit Falladas Buch in der Hand auch heute noch unseren Bezirk durchstreifen, zumal der Aufbau-Verlag jetzt in seiner Neuausgabe dankenswerterweise einen Vorkriegsstadtplan von Berlin in die Vorsatzblätter gedruckt hat. Dort sind die Wohnungen der Protagonisten markiert, vor allem die des Ehepaars Anna und Otto Quangel, das sich nach dem Soldatentod des einziges Sohnes dazu entschließt, Postkarten gegen Hitler in der weiteren Umgebung ihres Wohnhauses zu verteilen – unter Lebensgefahr für sich selber, aber auch für jeden, der sie vorfinden und nicht sogleich der Polizei übergeben würde.

 

Nachzeichnung eines realen Falls

 

Was Fallada als klassischen Thriller erzählt – ein riesiger, totalitärer Staatsapparat jagt die unbekannten Abweichler, um sie am Ende grausam zu zerquetschen -, zeichnet einen realen Fall nach. Es hat im Berlin dieser Jahre – nach 1942 – ein solches Ehepaar gegeben, das mit handgeschriebenen Botschaften Protest verbreiten wollte; und auch diese Frau und ihr Mann – sie hießen Elise und Otto Hampel – wurden gefasst und vom Volksgerichtshof Freislers zum Tode verurteilt. Es war Johannes R. Becher, der neuinstallierte Kulturbeauftragte des Sowjetischen Sektors von Berlin, der Fallada die authentischen Akten dieses Falls übergab, mit der Bitte, anhand dieses Stoffes einen Roman über den Widerstand der kleinen Leute in Berlin zu verfassen. Und Fallada entsprach ihr in unfassbar kurzer Zeit; das weit über 600 Seiten dicke Buch enstand 1946 innerhalb weniger Wochen. Danach brach Fallada gesundheitlich zusammen.

Allerdings lebten Hampels im Wedding. Dass Fallada die Handlung nach Prenzlauer Berg verlegte, mag nicht nur ein weiteres Fiktionssignal sein, sondern war wohl auch dem Willen entsprungen, Schauplätze und Figuren noch volkstümlicher, nämlich regelrecht proletarisch auszugestalten.

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Sein Buch wurde nun in den englischen und französischen Übersetzungen von einem neuen Publikum wiederentdeckt: von den jungen Leuten vor allem aus den Vereinigten Staaten, die heute von Berlin und seiner flackernden Geschichte im 20. Jahrhundert angezogen werden. Als „Alone in Berlin“ wurde es zu einem Bestseller auf der Liste der „New York Times“.

Das wiederum hat den Aufbau-Verlag jetzt stimuliert, „Jeder stirbt für sich allein“ zum ersten Mal in der Urfassung, ohne die Retuschen des damaligen Lektorats, neu herauszubringen. Und da kamen neben unvermeidlichen Unebenheiten, die bei einem so rasch hingeworfenen Text nicht erstaunen, vor allem bemerkenswerte Kühnheiten in der Figurenzeichnung ans Licht. Denn Fallada legte seine Quangels nicht als schlackenlose antifaschistische Helden an, sondern gab ihnen eine Vorgeschichte als Mitläufer: Der lange Jahre arbeitslose Tischler Otto Quangel war zunächst durchaus ein Anhänger des Führers, dem er seinen neuen Arbeitsplatz in einer Möbelfabrik zu verdanken glaubte. Und so bekommt seine Entscheidung zum Widerstand auch eine beeindruckende Tiefe, eben weil sie eine Entwicklung voraussetzt. Das hatte die bereinigte Lektoratsfassung von 1947 noch getilgt.

Falladas Roman ist vor allem eine meisterhafte Studie über die innere Geschichte der deutschen Volksgemeinschaft im Dritten Reich. Wer in den frisch sanierten Altbauten unseres Bezirks wohnt und arbeitet, erlebt hier dessen ursprünglich proletarischen Zuschnitt als Arbeiterwohngegend der wilhelminischen Zeit, die sich auch im Dritten Reich noch längst nicht bohemisiert oder gar verbürgerlicht hatte. Wir sehen also Blockwarte und SS-Männer, Postboten und Arbeitslose, Huren und Spielsüchtige, eher Hungerleider als gesicherte Existenzen. Dass im Haus Jablonskistraße 55 auch ein pensionierter Gerichtsrat und ein schon schwer bedrängtes jüdisches Ehepaar wohnen – es hatte vordem ein Wäschegeschäft auf der Schönhauser Allee besessen – markiert schon die Spitze der sozialen Hierarchie Prenzlauer Bergs in jener Zeit. Der Möbeltischler und Werkmeister Otto Quangel ist hier solides Mittelmaß.

 

Raub- und Erpressungsgesellschaft

 

Mit illusionsloser Genauigkeit zeigt Fallada die Prenzlauer Berger unter der Diktatur auch als Raub- und Erpressungsgemeinschaft. Dass Frau Rosenthal, die „olle Jüdsche“ im vierten Stock, deren Mann schon in Moabit inhaftiert ist, enorme Reichtümer besitzen soll, regt die Phantasie der übrigen Hausbewohner, vor allem der linientreuen Nazifamilie Persicke im ersten Stock, so an, dass der Schritt zum regelrechten Diebstahl nur klein ist. Dieser Aspekt des durchaus volkstümlichen Antisemitismus wird von der historischen Forschung erst seit kurzem so recht in den Blick genommen.

Und so erlebt der Fallada-Leser ein insgesamt durchaus ambivalentes Bild von der Gesellschaft der kleinen Leute in jener Zeit: Spitzeldienste fürs Regime besserten bei Arbeitslosen und Herumtreibern die Kasse auf oder konnten umgekehrt zur lukrativen erpresserischen Drohung werden. Die Menschen belauerten sich und hatten Angst voreinander. Man fragt sich, wie gerade diese Seite des antifaschistischen Klassikers in der DDR-Zeit eigentlich wahrgenommen wurde: Denn sie zeigt die Mechanismen, mit denen jede Diktatur, auch die der SED, an die schlechte Seite der Menschen appelliert, und zwar weithin erfolgreich. Das erfundene Haus Jablonskistraße 55 zeigt die Volksgemeinschaft wie in einem Modell, mit Tätern, Opfern, Gewinnlern, Verlierern, darunter Parteimitgliedern und Nichtmitgliedern. Mitwisser aber waren sie alle.

Jeder, der heute in Prenzlauer Berg frei und hochmoralisch lebt, mag sich selbst und seine Nachbarn im Geiste prüfen: Wie würde man sich unter vergleichbaren Ex-trembedingungen verhalten? Hans Falladas Roman ist ein großartiges und bedrückendes Buch, das erst am etwas er- 
baulichen Ende einige Schwächen zeigt. Wer seine Kulisse, den lebhaften Bezirk Prenzlauer Berg, liebt, wird sich vielleicht auch seine Botschaft besonders zu Herzen nehmen. Bei der Lektüre scheinen sich die Fassaden unversehens wieder ins alte Grau zu verfärben, die Geschichte selbst aber wirkt unerhört nah.

Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein. Roman. Ungekürzte Neuausgabe mit einem Nachwort von Almut Giesecke. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 704 Seiten, 19,90 Euro.

 

Der Stadtplan von 1944 wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom Verlag Pharus-Plan: http://www.dein-plan.de/

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