Rothenhagen

Die Faszination von Brandwänden

von Julia Schmitz 11. Mai 2023

Skateboard fahren auf dem Alex und Wohnungen besetzen auf der Kastanienallee: In „Für immer ist morgen vorbei“ schreibt Künstler Christian Rothenhagen über sein Aufwachsen in anarchischen Zeiten.


Die Wohnungstür hat er damals einfach eingetreten. Als der damals 17-Jährige kurz nach dem Mauerfall mitbekommt, dass im Haus seines Freundes auf der Kastanienallee mehrere Wohnungen leer stehen, besetzt er kurzerhand eine davon. Hinterhaus, ein Raum plus schlauchförmige Küche, Toilette, nur kaltes Wasser, Kohleofen. Dann läuft er zur Kommunalen Wohnungsverwaltung und fordert – den Schneid hat man vermutlich nur in dem Alter – geradeheraus den Mietvertrag. Den bekommt er zwar nie, nutzt die Wohnung aber trotzdem als Ort für Parties.

32 Jahre später sitzt Christian Rothenhagen in seinem Atelier in Schöneberg und muss über diese Episode schmunzeln. „Das waren anarchische Zeiten damals Anfang der 1990er“, sagt er. „Die alten Regeln galten teilweise nicht mehr, die neuen noch nicht – oder vielleicht taten sie das, aber es hat niemanden interessiert.“ Immer wieder versiegelt der Hausmeister die Tür, immer wieder bricht Rothenhagen sie auf und – er ist gelernter Tischler – repariert sie anschließend. Nach einem Jahr ist dann endgültig Schluss, die Hausverwaltung lässt das Zimmer in seiner Abwesenheit räumen, einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung entgeht er nur knapp.

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Für immer ist morgen vorbei

Prenzlauer Berg sei damals ein ziemlich heruntergekommner Arbeiterbezirk gewesen, erzählt er; die Hausfassaden grau, die Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg noch sichtbar. Einfach verglaste Fenster, Kohleofen: Das sei schon härteres Wohnen gewesen als in der ferngeheizten Platte samt Müllschlucker. Doch Christian Rothenhagen kennt es nicht anders, ist er doch in einer Altbauwohnung in Mitte aufgewachsen, mit ziemlich schmalem, aber stattliche 17 Meter langen Flur. „Ich habe da Fahrradfahren gelernt!“

Dass der Künstler all diese Anekdoten parat hat, liegt auch daran, dass er sie kürzlich als Buch veröffentlicht hat: „Für immer ist morgen vorbei“ versammelt Erinnerungen und Geschichten, angefangen bei seiner Kindheit bis in die Gegenwart. Aufgeschrieben hat er sie während des langen Winters 2021/22, mehr oder weniger in einem Rutsch: „Das musste raus. Es war auch ein bisschen therapeutisches Schreiben“, sagt er.

Seine Texte sollen nicht so klingen, „als erzähle Opa vom Krieg“, aber vor allem bei den Geschehnissen rund um den Mauerfall seien viele Emotionen hochgekommen und ihm oftmals die Tränen heruntergelaufen. Derart persönlich von sich selbst zu erzählen, an seinem eigenen Leben entlangzuschreiben, sei eine Herausforderung: „Damit macht man sich ganz schön nackig.“

 

Skateboard fahren und Zeichnen

Dass sich der Grenzübergang an der Bornholmer Straße am Abend des 9. November 1989 öffnet, bekommt er erst am nächsten Tag im Radio mit. An seinen ersten Besuch in Westberlin kann er sich nur verschwommen erinnern, die Euphorie überwiegt. Für Christian Rothenhagen ist zu diesem Zeitpunkt klar: Jetzt kann er noch einmal neu starten. Er holt sein Abitur, das er in der DDR nicht hatte machen dürfen, an einem Gymnasium in Reinickendorf nach, studiert später Erziehungswissenschaften und genießt die Club- und Kulturszene, die in Mitte entsteht.

Doch seine Leidenschaft geht eigentlich in eine andere Richtung: Als Teenager war er Teil der kleinen Skateboard-Szene Ost-Berlins, die über den Alexanderplatz flitzte, später dann durch eine plötzlich doppelt so große Stadt – und er zeichnet für sein Leben gern. Auf dem „Rollbrett“, wie man Skateboards früher im Osten wie im Westen nannte, habe er die Stadt ganz anders kennengelernt und wahrgenommen. „Das hat meine Sicht auf die Architektur und das Stadtbild verändert“, sagt er.

 

Die Silhouette der Stadt

Mittlerweile arbeitet Christian Rothenhagen seit fast zwanzig Jahren als freischaffender Künstler, zeichnet und malt vor allem Ansichten seiner Heimatstadt Berlin: Hausfassaden, Brandwände, Straßenlaternen, Hochleitungen. „Es sind vor allem Momentaufnahmen, weil sich die Stadt so schnell verändert. Früher gab es noch zahlreiche Brandwände und Brachen, heute sind fast alle Lücken mit lieblos gestalteten Gebäuden gefüllt“, sagt er. Er versuche das festzuhalten, ohne dabei nostalgisch oder ostalgisch zu sein.

Die Liebe zum Skateboard fahren pflegt der 1972 geborene bis heute: Auf seinem Grundstück südlich von Berlin hat er sich eine 45 Quadratmeter große Rampe gebaut. Sie heißt Helga.

 

„Für immer ist morgen vorbei“ von Christian Rothenhagen ist im Quintus Verlag erschienen und enthält Texte und Bilder des Künstlers. Es hat 144 Seiten und kostet 25 Euro. Mehr über seine Kunst erfahrt ihr auf seiner Webseite.

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