Bibbern bei -96 Grad. Was soll das?

von Sarah Schaefer 15. Oktober 2020

Es ist wahrscheinlich der kälteste Ort in Prenzlauer Berg: In einem Studio am Helmholtzplatz frieren die Menschen bei irrwitzigen Temperaturen. Wie bitte? Wir haben es ausprobiert.


Montagmorgen, halb neun. Es ist kalt draußen, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was mich erwartet: der Gang in die Kältekammer bei Minus 96 Grad. Drei Minuten durchfrieren und dann zur Arbeit – das scheint für einige ein ganz normaler Start in den Tag zu sein. Männer und Frauen betreten an diesem Vormittag das Studio Recover in der Schliemannstraße, das zum Fitnessstudio Formwandler gehört. Sie verschwinden in dem Raum mit der Kabine und kommen nach wenigen Minuten wieder heraus. „Ich war total genervt heute Morgen“, sagt eine Anwohnerin aus dem Bötzowkiez nach dem Besuch. „Jetzt geht’s besser.“

Als „Ganzkörper-Espresso“ bezeichnet das Recover-Team die Kältekammer gern. Der Temperaturschock habe eine ganze Reihe an positiven Effekten, sagt Filialleiterin Nadine Schäfer: Bei regelmäßiger Anwendung stärke er die Konzentration, man könne besser einschlafen. Die Kälte helfe gegen Entzündungen, Verspannungen und Schmerzen, stärke das Immunsystem und sorge dafür, dass der Körper unempfindlicher gegen Stress werde.

 

„Sonst kann das Gewebe absterben“

Bevor es losgeht, lässt mich Nadine Schäfer einen Fragebogen ausfüllen, in dem ich unter anderem bestätige, dass ich keine Herz-Kreislauf-Erkrankung oder Platzangst habe und nüchtern bin. Wie heftig diese Kälte ist, wird mir spätestens klar, als sie mich fragt, ob ich Piercings aus Metall trage. Die müsse man abnehmen oder mit dem Handschuh abdecken. „Sonst kann das Gewebe drumherum absterben.“ Auch ein schönes Bild: „Wenn wir in der Kältekammer ein Glas Wasser umdrehen würden, dann würde das Wasser nicht den Boden erreichen, weil es sofort einfriert.“

Nadine und ihr Kollege Dustin vom Studio Formwandler Recover, in dem die Kältekammer steht. Foto: Sarah Schaefer

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Da versteht sich fast von selbst, dass man nicht nackt in die Kältekammer geht. Schleimhäute, Kopf, Füße und Hände sind besonders empfindlich, deswegen trage ich zu Top und Shorts Gesichtsmaske, Mütze, Handschuhe, Socken und leichte Schuhe. Minus 96 Grad zeigt das Thermometer an. Die reguläre Temperatur beträgt Minus 85 Grad. „Aber heute hatten wir noch nicht so viel Durchlauf“, sagt Nadine Schäfer. Also komme ich in den Genuss der noch kälteren Kälte.

In der Kammer dampft es, auf dem Boden hat sich Schnee gesammelt. Nadine Schäfer lässt mich hinein und dann bin ich allein mit diesen irrwitzigen Minusgraden. Ich muss mich kurz orientieren, dann erinnere ich mich an einen Tipp, den sie mir gegeben hat – die Ellbogen mit den Händen umfassen, da sie schnell abkühlen. Ich wage es kaum, mich zu bewegen, denn ich möchte den kühlen Luftzug vermeiden. Nach etwa zwei Minuten fange ich an zu zittern. Durch den Dampf kann ich nichts erkennen, aber ich höre die Stimme von Nadine Schäfer, die fragt, ob alles ok ist. Dann sind die drei Minuten geschafft – es ging schneller vorbei als befürchtet.

 

Ich komme in den Genuss der noch kälteren Kälte. Vor allem an den Ellbogen ist es richtig frisch. Foto: Nadine Schäfer

 

Keine Euphorie, aber gute Laune

„Heutzutage halten wir uns fast nur noch bei etwa 20 bis 24 Grad auf. Wir sind kaum extremen Temperaturen ausgesetzt“, sagt Peter Giese, der für die inhaltliche und sportliche Leitung bei Formwandler zuständig ist, später am Telefon. „Die extreme Kälte ist ein kurzer, nützlicher Stressfaktor für den Körper.“ Wenn der Körper diesen Stress überstanden hat, schalte er in den Feiermodus und schütte Glückshormone aus.

Dieses Gefühl der Erleichterung erlebe ich an diesem Tag auch – keine Euphorie, doch die Laune ist deutlich besser als zuvor. Ich bin erfrischt und wach. Kalt ist mir allerdings noch eine ganze Weile danach, selbst später auf dem Fahrrad werde ich nicht wieder ganz warm.

Dass die Kryotherapie – so der Fachbegriff – auch gegen Leiden wie Rheuma und Migräne oder beim Abnehmen hilft, ist nicht erwiesen. Bislang ist offenbar noch nicht mal hinreichend untersucht, was während der Minuten in der Kälte mit dem Körper passiert.  Peter Giese verweist darauf, dass die Kältekammer nicht nur in Kliniken, sondern auch im Profisport Anwendung finde. Und dort investiere man nur, so Giese, wenn man von dem Erfolg einer Behandlung auch wirklich überzeugt sei.

Günstig ist das Angebot nicht, die regelmäßige Nutzung der Kältekammer kostet derzeit mindestens 59 Euro im Monat. Den Preis begründet das Recover-Team mit den hohen Betriebskosten und der persönlichen Betreuung der Trainer*innen während des Aufenthalts in der Kältekammer.

Im Wasser reicht übrigens schon eine Temperatur bis 15 Grad, um einen Effekt wie in der Kältekammer zu erzielen. Wer sich traut, kann also in der kalten Jahreszeit auch einfach im See baden.

 

Großes Bild: Kurz vor meinem Einstieg in die Kälte. Foto: Nadine Schäfer

 

In unserer Reihe Was soll das? fragen wir regelmäßig Leute, was das soll. Falls euch etwas auffällt, bei dem ihr euch das schon immer gefragt habt, freuen wir uns über einen Hinweis an diese Adresse.

 

Hinweis: Auf Bitte des Studios haben wir den Preis für die Kältekammer geändert. Wir hatten zuvor einen höheren Preis angegeben (79 Euro), der sich auf eine mehrfache Nutzung in der Woche bezieht.

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