Prenzlauer Berg der brennenden Müllcontainer

von Brigitte Preissler 8. Juni 2017

ARCHIV: Anfang Juni hat der DDR-Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ als Kinofilm Premiere gefeiert. 2011 gewann Autor Eugen Ruge für sein Prosadebüt den Deutschen Buchpreis.

Kurz bevor Eugen Ruge 2011 für sein DDR-Epos „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ den Deutschen Buchpreis nach Prenzlauer Berg holte, erschien bei den Prenzlauer Berg Nachrichten der folgende Text unter dem ursprünglichen Titel „Souvenirs aus dem Dinosaurierland“. Unsere Autorin Brigitte Preissler hat über den Roman, der weit mehr mit Prenzlauer Berg und seiner Geschichte zu tun hat als den Stadtteil als Kulisse zu nutzen, eine eindrückliche und hellsichtige Rezension geschrieben. Die Verfilmung mit Bruno Ganz als verbohrtem Großvater ist gerade in die Kinos gekommen. Aus gegebenem Anlass veröffentlichen wir den Artikel hier erneut.

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ARTIKEL vom 6. Oktober 2011:

Ein neuer Familienroman zur DDR-Geschichte, darauf hat die Menschheit nun wirklich nicht gewartet. Schon wieder ein Autor, der es besser, zumindest anders machen will als Uwe Tellkamp in „Der Turm“: Eugen Ruge heißt er, 1954 wurde er als Sohn des  marxistischen DDR-Historikers Wolfgang Ruge in Soswa (Ural) geboren. Ruge hat unter anderem als Journalist und Theaterautor gearbeitet und lebt heute in Prenzlauer Berg.

Sein spätes Prosadebüt „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ erregt zurzeit allerdings Aufsehen. Schon die Tatsache, dass das noch unveröffentlichte Manuskript 2009 mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet wurde, war eine erste Referenz. Nun steht das Werk gar auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Das ist einer der wichtigsten Literaturpreise, den der deutschsprachige Betrieb zu vergeben hat – und Ruges Chancen stehen nicht mal schlecht. Kommenden Montag wird der Preisträger in Frankfurt bekannt gegeben.

 

Eine Geschichte der schwindenden Begeisterung

 

Braucht die Welt dieses über vier Generationen und gut 400 Seiten hinweg erzählte Familienepos also vielleicht doch? Es ist eine Geschichte der schwindenden Begeisterung: Ruge erzählt von der abnehmenden Strahlkraft der kommunistischen Ideologie während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit Wilhelm und Charlotte Umnitzer fängt er an, den stalinistischen Großeltern, die der utopische Glanz noch lebensprägend blendete, oder vielmehr verblendete. Die ehemals in die Sowjetunion emigrierten, dann nach Mexiko entsandten KPD-Genossen reisen 1952 in die DDR ein, um als Institutsdirektorin und Verwaltungschef Karriere zu machen – ihr Leben also ganz in den Dienst der sozialistischen Sache zu stellen.

Zu deren tragenden Säulen zählt auch Kurt, ihr Sohn, der eine Russin heiratet und im Lauf seines Lebens ein Regalmeter füllendes wissenschaftliches Werk zur Arbeiterbewegung schafft. An seinen Gulag-Erinnerungen schreibt er nur heimlich; erst, als es die DDR nicht mehr gibt, wagt er es, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.

 

Qualmende Müllcontainer an der Schönhauser Allee 

 

Alexander, der nächste Sproß, übt seine Systemkritik offener. 1979 bricht er sein Studium ab und besetzt eine Wohnung in Prenzlauer Berg. Vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Vater und den Großeltern gewinnt diese Figur an Kontur, Ruge charakterisiert Alexander aber auch durch seine Umgebung: Durch einen schlichten Pappkarton voller Kohlen etwa, den er neben dem Ofen lagert – vorschriftswidrig, wie Vater Kurt empört zur Kenntnis nimmt. Alexander lebt in einer Welt der qualmenden Müllcontainer; in einer Schönhauser Allee, in der viele Restaurants zum Jahreswechsel geschlossen bleiben müssen, weil nach einem Temperatursturz die alten Rohre brachen. Alexander haust, kurz gesagt, an einem denkbar hässlichen Ort; in einem kaputten Staat, in den er sich nur noch zufällig hineingeboren fühlt. 1988 macht er also ‘rüber – ausgerechnet am Tag vor Opa Wilhelms neunzigstem Geburtstag.

 

Leguane, Baby-Haie, Parteisoldaten

 

Eugen Ruge liebt chronologische Sprünge und Perspektivwechsel, erzählt seine Geschichte der DDR in exemplarischen Momentaufnahmen. Am Ende schaut auch der Urenkel, Markus, auf das Leben seiner Vorfahren zurück – und nimmt deren politische Verblendungen und Konflikte nurmehr verständnislos zur Kenntnis. Wie seine Großeltern einst aus Deutschland nach Mexiko entkamen, weiß er zwar nicht genau – den Sombrero und den bestickten Ledergurt mit Revolvertasche aber, die sie von dort mitbrachten, findet er zumindest dekorativ. Der Sozialismus ist für ihn eine Art Dinosaurierland, dessen letzte Repräsentanten beim Geburtstag seines Großvaters aufgeregt durcheinanderschnattern. Ein geerbter Leguan, ein ausgestopfter Baby-Hai aus Mexiko, und eben der verknöcherte Parteisoldat Opa Wilhelm – das sind so die letzten, bestaunenswerten Souvenirs aus diesem seltsamen Land.

 

Mehr als eine Illustration historischer Fakten

 

Nicht zuletzt dank dieser plastisch geschilderten Urzeit-Reptilien ist „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ mehr als bloß eine unterhaltsame Illustration historischer Fakten. Nein, es genügt nicht, die Lebensdaten der Figuren und die politischen Zeitumstände zu paraphrasieren, um den Roman angemessen wiederzugeben. Ruge schwelgt in diesen Details, in verschwenderisch ausgebreiteten Dialogen, er schildert das verzweifelte Ringen der jeweils jüngeren Familienangehörigen um ein anderes, besseres Lebensmodell mit einer Hingabe, wie es keinem Geschichtsbuch, sondern nur dem richtigen Leben nachempfunden sein kann. Ist es wohl auch, die Geschehnisse beruhen teilweise auf autobiografischen Daten.

Jawohl: Wir brauchen dieses Buch. Drücken wir Eugen Ruge die Daumen, am Montag.

Eugen Ruge, In Zeiten des abnehmenden Lichts. Rowohlt Verlag 2011, 432 Seiten, 19,95 Euro.

 

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