Die Urgesteine aus Prenzlauer Berg

von Kristina Auer 18. Februar 2016

Diese Beiden kennen Prenzlauer Berg wie ihre Westentasche: Doris Kuhlmann und Jacqueline Franz sind hier geboren und fühlen sich nach wie vor pudelwohl. Wir waren mit ihnen spazieren.


Doris Kuhlmann und ihre Tochter Jacqueline Franz stehen vor ihrem ehemaligen Wohnhaus in der Gethsemanestraße. „Wir waren schon ein bisschen früher da und sind sogar kurz ins Haus gegangen“, sagt Jacqueline und lacht. Ehemalige Wohnhäuser haben die Frauen viele in Prenzlauer Berg. Sie sind Teil einer echten Prenzlauer Berger Familie, auch die Großeltern kamen schon von hier. Und so wurde viel umgezogen, von der Wisbyer in die Bornholmer, über die Wichert- und die Gethsemane- in die Varnhagenstraße und schließlich in die Prenzlauer Allee. Dort lebt Doris Kuhlmann heute noch, in der Wohnung, in der früher einmal ihre Eltern lebten. „Ich habe diesen Bezirk nie verlassen“, sagt sie. Es gibt sie noch, die Ureinwohner von Prenzlauer Berg.

Das frühere Wohnhaus an der Gethsemanekirche steht in einer ruhigen Ecke hinter der Kirche und hat heute eine schöne, sanierte Fassade. Davor spielen Kinder auf dem Spielplatz. Das Haus ist für Mutter und Tochter insofern etwas Besonderes, als dass es mit einer wichtigen Erinnerung verbunden ist: Hier entstand im Jahr 1977 der Dokumentarfilm „Jacki“, der das Leben und Heranwachsen der damals 14-jährigen Jacqueline und ihrer Familie begleitet. Die Regisseurin Angelika Andrees drehte den Film als Diplomarbeit an der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR. Vergangene Woche war er in der letzten Folge der Prenzlauer Berg-Filmreihe im Museum Pankow am Wasserturm zu sehen. Begeistert, mit tosendem Applaus und Jubelrufen nahm das wie immer zahlreich erschienene Publikum den Film auf.

 

 „Für mich müsste es nichts anderes geben“

Im Museum Pankow hat die 1943 geborene Doris Kuhlmann bis zu ihrer Pensionierung 2007 gearbeitet, als Sekretärin des Museumsleiters. Seit ihrer Ausbildung als junges Mädchen war sie immer berufstätig, mal bei der Mitropa, der mitteleuropäischen Schlafwagen- und Speisewagen-AG in der DDR, später in einem Pflegeheim, dann im Museum in Weißensee und schließlich in Prenzlauer Berg im Museum am Wasserturm.

Der Spaziergang führt zur Stargarder Straße auf der anderen Seite der Gethsemanekirche. Dort steht das ehemalige Wohnhaus der befreundeten Malerin Heidrun Hegewald. Auch sie ist in dem Dokumentarfilm zu sehen. Ihr Sohn ging damals mit Jacki in die Schule. Ab und zu besuchten die Kinder die in der DDR berühmte Künstlerin in ihrem Atelier in Pankow.

„Also für mich müsste es gar nichts anderes geben“, sagt Doris Kuhlmann lachend. Nichts anderes als Prenzlauer Berg, meint sie. Wir gehen ein Stück die Stargarder Straße entlang und schauen in die Fenster der vielen Cafés. „Ich kenn‘ hier ja auch alles, die Straßen, die Häuser, die Leute.“ Doris Kuhlmann ist eine kleine, blonde Frau mit einem besonnenen Gesichtsausdruck. Sie wirkt zufrieden. Trotz den turbulenten Veränderungen, die der Stadtteil seit ihrer Kindheit durchlaufen hat, fühlt sie sich hier immer noch wohl. Früher sei eben alles marode, die Nachbarschaft aber eng und freundschaftlich gewesen. Heute sind viele Häuser in besserem Zustand, dafür die Mieten oft teuer.

So drastisch empfinden Kuhlmann und ihre Tochter die Veränderungen gar nicht. In der Dämmerung gehen wir die Pappelallee hinunter. Doris Kuhlmann zeigt auf eine der fensterlosen Hauswände, die für Berlin so typisch sind. Hier fehlt das Vorderhaus, man kann in den Hinterhof sehen. „Gucken sie mal, das sah doch schon immer so aus, naja, vielleicht noch ein bisschen maroder. Aber es gibt immer noch Häuser, wo nicht alles so hundertprozentig perfekt ist. Das muss ein bisschen so bleiben, sonst ist das so steril.“ Freunde habe sie immer noch in Prenzlauer Berg, beispielsweise eine Schulfreundin in der Kuglerstraße. Ganz so viele wie früher sind es allerdings nicht. „In meinem Wohnhaus sind doch schon einige weggestorben, und dann ziehen junge Leute ein, aber so ist das eben.“, sagt Kuhlmann. Man muss das Leben und die Veränderungen mit Gelassenheit nehmen, findet sie. Und, dass es in Prenzlauer Berg heute auch noch so viele Kinder gibt, freut sie sehr.

 

Schwere Zeiten gab es auch

Einfach war das Leben in Prenzlauer Berg für Doris Kuhlmann nicht immer. Davon berichtet auch der Film „Jacki“. Er entstand zu einem Zeitpunkt, als Kuhlmann sich dazu entschlossen hatte, mit Jacqueline zu einem neuen Mann und dessen Tochter aus früherer Ehe zu ziehen. Das Paar bekam einen gemeinsamen Sohn. Vor dieser zweiten Ehe hatte Doris Kuhlmann seit der Scheidung von ihrem ersten Mann vier Jahre lang alleine mit ihrer Tochter Jacqueline gelebt.

Die neue Familienkonstellation stellte Kuhlmann vor schier unüberwindbare Herausforderungen: Statt einem hatte sie plötzlich drei Kinder zu versorgen, war gleichzeitig voll berufstätig und ihr Ehemann war als Fernfahrer fast nie zu Hause. Die Teenagerin Jacqueline verstand sich nicht mit dem Stiefvater, es gab oft Streit. „Ich darf gar nicht zurückdenken, das war eine schwere Zeit“, sagt Kuhlmann. Inzwischen spazieren wir über den Helmholtzplatz. Einige Eltern sind mit ihren Kindern auf dem Weg vom Spielplatz zurück nach Hause. „Das Entscheidende war, dass mein Mann gar nicht die Bereitschaft mitbrachte, in der Familie mitzuarbeiten. Das habe ich nur leider zu spät gemerkt.“ Auch die zweite Ehe zerbrach, 1979 ließ Kuhlmann sich scheiden. „Die Scheidung war das Beste, was ich machen konnte“, sagt sie.

Auch die Wendezeit hat die Familie als beunruhigend und schwierig erlebt. Tochter Jacqueline war damals bereits verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Die junge Familie wollte nach Bayern umziehen und bemühte sich seit langem um eine Ausreiseerlaubnis. Ausgerechnet am Morgen des 9. November 1989 wurde der Antrag bewilligt, erinnert sich Jacqueline. „Am Abend saßen wir mit Freunden zusammen und haben Sekt getrunken und unsere Ausreiseerlaubnis gefeiert. Plötzlich hieß es, die Mauer ist offen“, sagt sie. Im Januar zog sie mit ihrer Familie nach Regensburg. Sechs Jahre blieben sie dort, dann war das Heimweh zu groß. „Das hat sich nie angefühlt wie Heimat da unten“, gesteht Jacqueline.

Die Familie zog zurück nach Berlin. Heute lebt Jacqueline mit ihrem Mann in Marzahn und betreibt einen Kosmetiksalon. „Ich habe mich jetzt mit Marzahn arrangiert, aber nach Prenzlauer Berg würde ich auch nochmal umziehen“, sagt sie. Für die Mutter und Großmutter waren die Ausreisepläne damals sehr schmerzlich. „Wir haben ja nicht gewusst, ob wir uns wiedersehen. Wir haben immer gedacht, vielleicht machen sie die Grenze wieder zu.“ Am Ende blieb sie doch offen, und Doris Kuhlmann besuchte ihre Tochter mehrmals in Regensburg.

 

Keine Meckermenschen

Auch wenn nicht alles einfach war in ihrem Leben, mit Bitterkeit schaut Doris Kuhlmann nie zurück. „Also ich finde mein Leben okay. Ich habe immer gute Arbeitsstellen gehabt, nette Kollegen und ich habe immer mein Geld verdient. Und jetzt in Rente genauso. Ich bin noch sehr aktiv, und gesund bin ich auch. Und da finde ich, ich kann sagen, mein Leben ist okay.“

Die positive Lebenseinstellung liegt in der Familie, sind sich Mutter Doris und Tochter Jacqueline einig. Auch die Großmutter sei bescheiden und fröhlich gewesen und habe sich nie beschwert. „Wir sind keine Meckerleute“, sagt Jacqueline. Wenn sie erzählt, leuchten ihre blauen Augen und es ist noch dieselbe Quirligkeit zu erkennen, die schon die 14-jährige Jacki im Film ausgestrahlt hat. Auch sie sei dankbar für ihr Leben und vor allem den Familienzusammenhalt. „Dass wir alle so innig zueinander sind, dass jeder für den anderen da ist, das macht glücklich“, sagt sie.

Inzwischen sind wir an der Prenzlauer Allee angekommen. Im Standesamt in der Fröbelstraße heiratet im Frühjahr Jacquelines Tochter Romy. Doris Kuhlmann zeigt Jacqueline das Café gegenüber, in dem anschließend gefeiert werden soll. Wenn alles so läuft wie geplant, will Romy dieses Jahr noch ein Kind bekommen. „Unsere Familie ist immer gewachsen“, sagt Kuhlmann. „Und so wird es auch weitergehen“, ergänzt Jacqueline und lacht. Die Familiengeschichte wird also in Zukunft fortgesetzt. Und vielleicht dreht eines Tages jemand einen neuen Dokumentarfilm über die fröhlichen Urgesteine aus Prenzlauer Berg. Sehenswert wäre dieser Film allemal.

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