Wenn nichts mehr geht

von Thomas Trappe 21. Mai 2015

Eine Prenzlauer Bergerin sucht verzweifelt das richtige Pflegeheim für ihre Mutter. Ein Pfleger berichtet über bedenkliche Zustände in einem Stift. Was ist los in den Prenzlauer Berger Altenheimen?

Man könnte allen das Leben ein wenig erleichtern. Die Altenpflegerin wirkte nicht so, als würde sie ihren Vorschlag das erste Mal unterbreiten, und eigentlich klang er ja auch ganz harmlos. Eine Tablette ist bitter, Kaffee ist bitter, unwahrscheinlich also, dass es auffiele, würde man das eine in das andere mischen. Der alten Frau, weit jenseits der 80 und schon länger psychisch auffällig, könnte so das anstrengende und nicht enden wollende Einschlafprocedere jeden Abend erspart werden. Schnell die Schlaftablette ins Getränk, fertig. Die alte Dame merke „ja sowieso nichts mehr“. Es war mal wieder soweit, Regina Müller gab erneut auf und suchte ein neues Pflegeheim für ihre Mutter, nicht ohne mit einer Anzeige zu drohen, sollte nur eine Tablette irgendwo untergemischt werden. „Seit Jahren haben wir jetzt immer die gleichen Erlebnisse, die gleichen Frustrationen, und es wird nicht besser.“ Regina Müller heißt eigentlich anders, ihren seltenen Zunamen möchte sie lieber nicht in der Zeitung lesen. Zu schnell würden Rückschlüsse gezogen, und wenn sie eines nicht gebrauchen kann, dann sind es Pflegeheime, die einen Brass auf ihre Mutter haben. Müller sucht in Prenzlauer Berger Pflegeheimen seit fünf Jahren nach einer Betreuung, die ihren Ansprüchen gerecht wird. Sie sucht immer noch.

Mag sein, dass es hohe Ansprüche sind, vielleicht auch überhöhte. Doch Müllers Geschichte ist eine, die so immer wieder zu hören ist, aus Pflegeheimen der ganzen Republik, von Heimbewohnern, von Angehörigen, und, ja auch von Pflegekräften selbst. Es ist ein Thema, dass in Prenzlauer Berg eher im Schatten diskutiert wird. Im gleichen Schatten, in dem die Alten leben, die im Stadtteil unterdurchschnittlich repräsentiert sind und, anders als der Nachwuchs, kaum im politischen Fokus stehen. Ab und an gibt es unappetitliche Details, die aufhorchen lassen, aber dann meist so schnell verdrängt werden, wie man es sonst nur dementen Heimbewohnern unterstellen würde. Den jüngsten Aufschrei in der Prenzlauer Berger Pflegelandschaft steuerte nun eine Pflege-Leasingkraft bei, die ihre Erfahrungen in einem Prenzlauer Berger Heim veröffentlichte. Jan Schrecker, ausgebildeter Pflegehelfer und für die Piraten Mitglied der Pankower Bezirksverordnetenversammlung, was der ganzen Sache ein wenig politisches Gewicht verleiht.

 

Drei Pflegekräfte für 28 Patienten

 

Schrecker, der derzeit im Abgeordnetenhaus arbeitet und sich über Zeitarbeitsfirmen seit Jahren in Pflegeheimen etwas dazu verdient, wurde vor etwa drei Monaten im evangelischen St.-Elisabeth-Stift  in der Eberswalder Straße eingesetzt. Nur ein paar Frühschichten machte er hier, berichtet er. Schrecker kennt die Pflegebranche, seit er 1998 ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Dortmunder Krankenhaus absolvierte und danach weiter in dem Bereich arbeitete. Das, was er nun erlebte, sei allerdings „herausragend schlecht“ gewesen, berichtet Schrecker. Zwei examinierte Pflegekräfte hätten sich auf der Station, auf der Schrecker eingesetzt wurde, um 28 Bewohner gekümmert, unterstützt durch ihn, der keine Einarbeitung bekommen habe. Wie auch, möchte man fragen?

Denn von den 28 Patienten, so Schrecker, seien die wenigsten in der Lage gewesen, sich selbst zu bewegen. „Viele sind so pflegebedürftig, dass sie eigentlich ständiger Begleitung bedürfen“, sagt Schrecker. Jeder Pfleger hätte damit allein bei der Morgenroutine – es ist meist die anstrengendste Phase eines Pflegetages – ungefähr acht Patienten komplett zu versorgen gehabt. Heimbewohner müssen in dieser hektischen Phase aus dem Bett geholt, ins Bad und zur Toilette gebracht werden, gegebenenfalls die Windeln gewechselt bekommen. Tätigkeiten, für die oft zwei Pfleger benötigt werden, will man schwere Rückenschäden vermeiden. Das Personal im St.-Elisabeth-Stift habe dafür nicht mal annähernd gereicht, so Schrecker. Viele Patienten, so berichtet er, seien einfach liegen geblieben und später „fertig“ gemacht worden. Eine Schicht habe er, die Aushilfspflegekraft, sogar komplett damit zugebracht, Patienten zu waschen. 

 

„Umgelagert“ wurde kaum, berichtet Schrecker

 

Was Schrecker berichtet, ist eine Zusammenführung von Erfahrungen, die jeder, der etwas länger in der Pflege tätig war, so auch berichten kann. Fast immer gibt es zu wenig Pflegekräften. Die Bezahlung ist generell schlecht, oft mangelt es an Ausbildung, die Frustration ist groß. In besseren Fällen kann das durch Engagement von Pflegern wettgemacht werden, in schlechteren bleiben die Patienten die meiste Zeit des Tages der Dauerberieselung des Fernsehers überlassen. Wer kann, isst selbst, wer nicht, muss hoffen, dass ihm geholfen wird und eine Pflegekraft nicht mehr als drei Personen gleichzeitig „abfüttern“ muss. Freilich, nicht in jedem Heim geht es so zu, aber doch erschreckend oft. Und glaubt man Schreckers Schilderungen, kamen in der Eberswalder Straße ziemlich viele Missstände zusammen. 

Am brisantesten fand Schrecker den Umgang mit wundgelegenen Patienten. Immobile Bewohner sind nicht in der Lage, sich im Bett so zu bewegen, dass sie Druckstellen auf der Haut selbst entlasten können. Irgendwann sterben auf diese Weise Hautzellen ab, was bei Nichtbehandlung dazu führen kann, dass die Stelle sich entzündet. Druckgeschwüre, Dekubiti genannt, hat Schrecker nach eigenen Aussagen bei unzähligen Patienten gesehen, bei einer Bewohnerin sei sicher gewesen, dass sie darunter schon seit Monaten leide. Die Dekubitusprävention gehört eigentlich zum Standard auf jeder Kranken- und Pflegestation: Bettlägrige werden dabei mehrmals täglich „umgelagert“, damit Hautstellen nicht durchgehend belastet sind. Auch das schafft man nur schwer alleine – Schrecker berichtet, dass es im Stift deshalb oft gar nicht gemacht wurde. Dekubiti seien eine Folge gewesen, außerdem versteifte Gliedmaßen. 

 

Pflegeheim äußert sich nur knapp

 

Das Personal in dem Pflegeheim, so Schrecker, sei absolut überfordert. Am Wochenende, wenn die Besetzung in der Regel noch dünner ist, sei zusätzlich ein Teil der Essensvorbereitung aus der Großküche in die Stationen ausgelagert worden. Für fürsorgliche Gespräche mit den Patienten sei generell keine Zeit gewesen. Genauso habe die Kommunikation mit den Angehörigen und den Pflegekassen gelitten, was sich wiederum häufig derart niederschlug, dass Verwandte nicht die dringend nötigen Wechselklamotten, zusätzliche Windeln oder Waschlotion mit ins Heim brachten. Rollstühle seien oft in einem desolaten Zustand gewesen, da niemand Zeit habe, die Reparatur oder eine Neuanschaffung zu veranlassen. Viele Pflegekräfte hätten nach seinen Erkenntnissen wegen dieser Belastungen, so Schrecker, in den vergangenen beiden Jahren das Heim verlassen. Zuvor, so sei ihm berichtet worden, habe es schon diverse Überlastungsanzeigen gegeben – also Meldungen von Mitarbeitern an Vorgesetzte, dass sie mit der Arbeit nicht mehr hinterherkommen. „Darauf wurde reagiert, indem man ein besseres Zeitmanagement gefordert hat“, fasst Schrecker die ihm von Kollegen mitgeteilte Reaktion der Heimleitung zusammen.

Schrecker veröffentlichte seine Erfahrungen in seinem Piraten-Blog. Er bat die Heimleitung um eine Stellungnahme, informierte außerdem den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). Dort äußert man sich nicht zu dem Fall, und auch im St.-Elisabeth-Stift gibt es nur dürre Informationen. Prüfungen von Heimaufsicht und MDK hätten die Vorwürfe nicht belegt, zitiert Sprecher Martin Jeutner eine offizielle Erklärung, die zuvor vom Heim herausgegeben wurde. Demnach hat der MDK dem Heim die Pflegenote 1,0 gegeben – dazu allerdings ist zu sagen, dass das Benotungssystem so umstritten ist, dass es der Patientenbeauftragte der Bundesregierung gerade abschaffen will. Zu Zahlen der Pflegekräfte und der Bewohner und zu allen anderen Fragen sagt Sprecher Jeutner indes nichts. Nur soviel: Kürzlich sei Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe im Heim zu Besuch gewesen, davor der Berliner Gesundheitssenator Mario Czaja (beide CDU). Vor neun Jahren sogar der damalige Bundespräsident Horst Köhler. Gerade weile eine Delegation aus Japan im Heim, um sich zu informieren. Vorgehen gegen die Vorwürfe Schreckers wolle man nicht, sagt Jeutner.

 

Der Gesundheitssenator will sich nicht einmischen

 

Generell sind Pflegekräfte derzeit vielerorts Leidtragende eines im sozialen Bereich immer häufiger anzutreffenden Phänomens: Obwohl sie als Fachleute immer stärker gefragt sind, gibt es gleichzeitig kaum Gehaltssteigerungen und erheblichen Druck bei der Arbeit. Auch die Heimleitungen argumentieren dabei nicht im luftleeren Raum, schließlich müssen sie mit den Zuweisungen der Pflegekassen zurechtkommen, die wiederum von Beiträgen abhängen, die die meisten Versicherten nicht gerne steigen sehen. „Irgendwie funktioniert es ja auch immer“, fasst Schrecker seine generellen Erfahrungen in der Branche zusammen und verweist auf Angehörige, die oft auch nicht zu viel wissen oder wissen wollen. 

Schrecker frustriert mangelndes Interesse am Thema seitens der Politik. Bei der Gesundheitssenatsverwaltung erklärt man auf Anfrage, dass man sich an einer Diskussion über Pflegestandards im St-Elisabeth-Stift nicht beteiligen wolle. Gleichzeitig bemüht sich Senator Czaja gerade um andere pflegepolitische Akzente. Er hat einen Maßnahmenplan für pflegende Angehörige vorgestellt, es geht dabei weniger um Geld als um eine Informationsbroschüre. Außerdem, darauf ist die Gesundheitsverwaltung besonders stolz, wurden pflegende Angehörige kürzlich geehrt. Mit einem sogenannten Pflegebären.

Die in Teilzeit pflegende Angehörige Regina Müller kann über solche Aktionen nur lachen – und bei den Berichten von Jan Schrecker mit den Schultern zucken. Sie kennt auch dieses Heim, sagt sie. Ihre Mutter war dort zur Kurzzeitpflege, dass es in anderen Heimen besser zugeht, glaubt die Tochter nicht. „Es ist überall das gleiche, man kriegt das aber nur mit, wenn man sich auch darum kümmert“, sagt Müller resigniert. Sie hadert weiter. Mit Ärzten, die in Anwesenheit der Mutter von dieser nur in der dritten Person sprechen, mit überarbeiteten Pflegern, mit Heimleitungen, die Angestellte unter Druck setzen. „Es ist armselig“, sagt sie, „und jeder denkt, es hat nichts mit ihm zu tun. Aber irgendwann kommt es dann doch auf einen zu.“ Regina Müller selbst versucht gerade, zusammen mit anderen ein Mehrgenerationenhaus aufzubauen, in dem sie dann später auch selbst alt werden kann. In ein Pflegeheim will sie auf keinen Fall.

 

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