Die Aufräumer

von Juliane Schader 8. Mai 2012

Messies, das sind doch die Chaoten, die zu faul zum Aufräumen sind. Dieses Bild vermittelt das Fernsehen. Die Mitarbeiter von Freiraum sehen das etwas anders. Seit fünf Jahren helfen sie Betroffenen.

Der Ordnungsraum macht seinem Namen alle Ehre: Er ist superordentlich. Abgesehen von einem Blumentopf auf dem Tisch steht nichts herum, kein Kram, keine Broschüre, höchstens zwei drei Staubkörner. Und genau so soll es sein.

Denn im Ordnungsraum sollen diejenigen, die im Alltag Schwierigkeiten beim Ordnen haben, Platz und Atmosphäre finden, um ihr Problem anzugehen. Einmal in der Woche lädt der Verein Freiraum Berlin Brandenburg dazu in das Frei-Zeit-Haus in Weißensee. Erst vor ein paar Wochen sind sie mit ihrem Angebot aus der Dunckerstraße in die kleine Stadtvilla mit Blick auf den See gezogen. „Hier haben wir etwas mehr Platz, und die natürliche Umgebung wirkt zusätzlich beruhigend“, meint Andrea Hüttinger.

Seit einigen Jahren engagiert sich die Politikwissenschaftlerin mit dem Verein für Messies. „Im Fernsehen werden diese Menschen oft als faule Chaoten vorgeführt, dabei leiden sie an einer ernstzunehmenden Erkrankung“, erklärt Hüttinger. Dennoch fehlten in Deutschland bislang die Strukturen, diesen Menschen zu helfen. „Lediglich in München gibt es noch eine vergleichbare Initiative.“

 

Von der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Messie-Hilfe

 

Der Berliner Verein entstand vor fünf Jahren aus einem Modellprojekt, welches jedoch zunächst nicht Messies helfen, sondern Arbeitslose zurück in die Berufswelt bringen sollte. Auf der Suche nach einer Aufgabe stieß man damals auf die Anonymen Messies als Selbsthilfestruktur, und bald war klar, dass hier Menschen sind, die Unterstützung brauchen. Mittlerweile arbeiten fünf Teilzeitkräfte für das Projekt, welches sich durch Zahlungen vom Amt und den Betroffenen finanziert. Neben den offenen Treffs im Ordnungsraum spielen Besuche in der Wohnung eine große Rolle. Etwa zweimal pro Woche kommen die Helfer vorbei und unterstützen beim Aufräumen. Damit allein ist es jedoch nicht getan.

„Man muss die Leute in ihrer Problematik ernst nehmen“, sagt Hüttinger. Statt nur als Bewohner eines unordentlichen Zuhauses müssten die Betroffenen im Kontext ihrer persönlichen Lebensgeschichte gesehen werden. „Das Chaos in der Wohnung spiegelt oft ein Chaos im Inneren wider“, meint sie. Daher sei es wichtig, dass der Messie beim Aufräumen das Tempo vorgebe. „Ein herumliegendes Buch ist da nicht einfach nur ein herumliegendes Buch, sondern steht für eine Erinnerung, die man nicht mal eben ins Regal räumen kann.“ Die Dauer der Hilfe richte sich daher nicht nach der Kubikmeter-Anzahl der Dinge, sondern hänge von der Bereitschaft ab, sich von Dingen zu verabschieden.

 

Schuhe aus auch im größten Chaos

 

Jürgen Bernsen ist einer der Helfer. Bevor er vor fünf Jahren die Arbeit mit Messies begann, hat er unter anderem als Pfleger und Haushandwerker gearbeitet. Als er das erste Mal in eine Messie-Wohnung kam, stellte er noch die Frage „Wohnen Sie hier?“ Mittlerweile erkundigt er sich auch beim Betreten der chaotischsten Wohnung, ob er die Schuhe ausziehen soll. „Wenn es unbedingt sein muss, trage ich einen Mundschutz. Handschuhe versuche ich zu vermeiden“, erzählt er. „Das ist eine Frage des Respekts.“

Fünf Messies aus ganz Berlin betreut Bernsen derzeit, jeden Tag macht er zwei bis drei Hausbesuche. Das Spektrum der Unordnung reicht von leichtem Chaos bis zu Wohnungen, in denen die Toilette nicht mehr zugänglich ist. „Wenn etwa Lebensmittel im Spiel sind, muss ich natürlich sofort eingreifen. Aber ansonsten gibt der Betroffene den Takt vor.“ Stück für Stück wird so nicht nur die Wohnung aufgeräumt, sondern auch wieder gelernt, die Ordnung zu halten.

„Am Messie-Syndrom kann jeder leiden, egal ob Zahnarzt, Psychologin oder Langzeitarbeitsloser“, meint Bernsen. Auch er ärgert sich sehr über Fernsehsendungen wie „Einsatz in 4 Wänden spezial“, „Achtung Messies“ oder „Das Messie-Team“, in denen Einrichtungsexperten in ein paar Tagen die Wohnungen komplett entrümpeln und in Motive aus dem Möbelkatalog verwandeln. „Mit der Wohnung muss sich auch der Mensch verändern“, meint er. Indem die Fernsehteams die Umgebung der Betroffenen erst völlig umkrempelten und sie dann allein ließen, machten sie alles nur noch schlimmer. Mindestens ein Jahr lang arbeitet Bernsen regelmäßig mit den Betroffenen, die keine Einrichtungstipps brauchen, sondern Helfer mit Geduld und ohne Vorurteile.

 

Mit Rollkoffern voller Papiere in den Ordnungsraum

 

Das ist auch das Erfolgsrezept des Ordnungsraumes, wo die Messies nicht nur Infrastruktur vom Aktenvernichter bis zum Locher vorfinden, sondern auch Menschen mit dem gleichen Problem. „Die Leute kommen mit Rollkoffern voller Papiere, die sie zu Hause niemals ordnen würden“, erzählt Hüttinger. „Hier gibt es nichts, was sie ablenkt.“ Stattdessen kommen sie nicht nur in Kontakt mit anderen Betroffenen, sondern können auch vom Netzwerk des Vereins profitieren, das vom Psychotherapeuten bis zum Anwalt reicht, der etwa beim Ärger mit der Hausverwaltung helfen kann. „Die Messies wissen: Wir sind ihre Verbündeten.“

Diese Botschaft ist wichtig, denn es ist die Scham, die viele Betroffene davon abhält, sich Hilfe zu suchen. „Erst wenn der Leidensdruck groß genug ist, kommen sie zu uns“, meint Hüttinger. „Innerlich sind sie dann schon einen weiten Weg gegangen.“ Jeden ersten Mittwoch im Monat gibt es eine offene Infoveranstaltung im Frei-Zeit-Haus, wo der Verein sich und seine Arbeit vorstellt. Damit beginnt für viele Messies dann die Reise aus dem Chaos.

„Es ist toll, zu sehen, wie sich nicht nur die Wohnung verändert, sondern auch die Menschen“, beschreibt Bernsen seine Arbeit. Denn mit jedem Raum, der nicht automatisch wieder zugeräumt wird, werden sie lebenslustiger, laden wieder Freunde zu sich ein, nehmen am öffentlichen Leben teil. Schließlich ist die Unordnung, in der viele Messies leben, nicht wirklich selbst gewählt, sondern ein Symptom für eine seelische Verletzung, die jedoch mit viel Geduld geheilt werden kann. Unterstützt von Psychologen leisten die Mitarbeiter von Freiraum dabei eine wichtige Hilfestellung, indem sie immer und immer wieder in die Wohnungen gehen und beim Aufräumen helfen. „Man muss es sich vorstellen wie eine Strecke, die man sehr oft rennt“, meint Hüttinger. „Es geht nicht von heute auf morgen, aber man wird immer schneller.“

 

 

 

NEWSLETTER: Damit unsere Leserinnen und Leser auf dem Laufenden bleiben, gibt es unseren wöchentlichen Newsletter. Folgen Sie uns und melden Sie sich hier an!

Das könnte Dich auch interessieren

Hinterlasse einen Kommentar