Die Vermessung des Hasses

von Thomas Trappe 13. April 2012

Ein Gedicht fordert Auswärtige auf, sich zu schämen. Ein Dorftrottel aus Prenzlauer Berg hat in die Tasten gehauen.

Einfach Grass: Auch in Prenzlauer Berg gibt es jetzt Leute, die finden, dass mal was gesagt werden muss, was man nicht sagen darf und das dann aufschreiben. Über Ostern gefunden und jetzt schon Inhalt von angestrengten Interpretationsstunden in der Redaktion: Das neueste Werk vom anonymen Autoren, Titel: „Und sie schämen sich nicht“, 1. Auflage, Din-A4-Blatt, im Wurfverfahren mittels Powerstrip an Prenzlauer Berger Häuserwände gepappt. Das Gedicht beschäftigt sich damit, dass sich viele Menschen im Stadtteil nicht schämen, obwohl sie gar nicht von hier sind. Unter anderem.

Es geht um die bekannten Phänomene: Leute aus der Provinz kommen einfach nach Prenzlauer Berg, trinken hier Kaffee mit Milch und zeugen Nachwuchs. Zeigen und klagen an. Trinken Kaffee. Gehen nicht arbeiten. Zerstören unseren schönen Berg! Und trinken Kaffee. Mit Milch! Eingebettet ist die Beschreibung all dieser Ungeheuerlichkeiten in die eröffnende und abschließende Klagezeile: „Und sie schämen sich nicht.“

 

Vorwurf: Herkunft

 

Man kann dem oder der Autorin nicht genug danken. Dafür, dass sie mit ihrem argumentativen Selbstmordattentat die ganze provinzielle Beschränktheit des Kampfes für einen Prenzlauer Berg, wie er früher einmal gewesen sein soll, noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen führen. Schämen also soll man sich als allererstes dafür, dass man „aus der Provinz kommt“. Das ist der Ausgangspunkt aller weiteren Vorwürfe – die Herkunft. Findet sowas irgendwo sonst in der ostdeutschen Provinz statt, spricht man in der Regel von Neonazis.

Freilich heißt es in dem Prenzlauer Berger Schriftstück dann auch nicht „Ausländer raus“, sondern „Eigentlich sind Sie hier unerwünscht“. Man soll dorthin verschwinden, wo man hergekommen ist. Viele derer, an die sich die Autoren des Stücks wenden, werden das kennen. Aus ihren eigenen Dörfern, in denen es nicht gerne gesehen wird, wenn der Bauer aus dem Nachbardorf sich auf den eigenen Äckern tummelt. Je Dorf, desto doof – diese frustrierende Erkenntnis trieb einige unserer Zuwanderer einst raus aus dem ihrem Kaff, hin ins weltoffene Prenzlauer Berg. Nun sind sie hier und lesen ein Gedicht, das sie zum Schämen auffordert. Aber jeder hatte ja mal Träume.

 

 

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