Vom Glück, das Fremde zu erforschen

von Cosima Lutz 19. Oktober 2015

Mit „Schönefeld Boulevard“ feierte Julia Jendroßek ihren Kino-Durchbruch, heute abend ist sie im ZDF-Fernsehfilm „Die Neue“ zu sehen. Ein Gespräch über „Duldungstiere“ und das privilegierte Aufwachsen in Prenzlauer Berg.

Bei fast jedem Gesprächs- oder Schreibthema, das derzeit etwas leichter von der Hand geht als „die Flüchtlinge“, überkommt einen ja die bohrende Frage: Gibt es im Moment nicht Wichtigeres als, sagen wir mal, vom gemütlichen Prenzlauer Berger Schreibtisch aus einen ZDF-„Fernsehfilm der Woche“ zu besprechen oder kleinliche Regionalkulturkriege (Schwabenhass, Schrippen, Spätzle) aufzuwärmen?

Nach dem Treffen mit der Schauspielerin Julia Jendroßek, die im vergangenen Jahr mit Sylke Enders’ „Schönefeld Boulevard“ als zart besaitete Wuchtbrumme „Cindy“ ihren Kino-Durchbruch feierte, ist jedenfalls eines klar: Letztlich geht es doch um ganz ähnliche Fragen. Zum Beispiel: Wie geht jemand mit dem Neuen und Fremden um, das plötzlich da ist und erst mal bleibt? Oder: Warum lassen sich die Gebashten oft so vieles gefallen?

 

Aufgewachsen im „Ghettogebiet des Prenzlauer Berg“

 

Julia Jendroßek ist in Prenzlauer Berg aufgewachsen. Und eigentlich treffen wir sie, weil wir darauf gespannt sind, aus Sicht einer 23-jährigen zu hören, wie das so ist, das „Alteingesessensein“. Und weil wir wissen wollen, ob sie eines jener Kinder war, die hier – jedenfalls in stereotypen Vorstellungen – von ehrgeizigen Eltern ständig zwischen Musikunterricht, Theaterprobe und Ballettkurs hin und her gejagt werden.

Für Stereotype hat sie Verständnis, so gehe man nun mal oft auf Fremdes zu, bis die Muster dann eben aufbrächen, aber: „Ist mir total wumpe, was jetzt über Prenzlauer Berg gesagt wird“. Sie legt ihre dicken langen Kringellöckchen über die eine Schulter und spricht jetzt als Veteranin, nüchtern, stolz, abgeklärt. „Ich bin 1992 geboren, das war eine andere Zeit. Meine Kindheit war grau, wir wohnten in einem Hochhaus in der Thomas-Mann-Straße. Kein Altbau! Ich sage immer, hey, ich bin im Ghettogebiet des Prenzlauer Berg aufgewachsen.“ Ok, hätten wir das also geklärt.

Da ist er schon, der größtmögliche Kontrast zu ihrer immer leicht müde nach vorn gebeugten, auch rhetorisch etwas schwerfälligen Cindy aus „Schönefeld Boulevard“ (2013): eine Eloquenz, schnell, klar und freundlich. Das muss man vielleicht wirklich dazu sagen, denn in dem Film wirkte ihre Langsamkeit so echt, dass jemand auf die Idee kommen könnte, diese Beinahe-Prekariats-Cindy sei nicht das Ergebnis gründlicher Rollenarbeit, sondern allein eines guten Castings gewesen.

 

Das Mädchen mit der Zahnlücke

 

Nach einem Berliner Intermezzo im Wedding – ok, sie lebte auch mal ein Jahr in Irland, tourte schon als Schülerin durch Europa, drehte in anderen Städten – lebt Julia Jendroßek inzwischen wieder hier, in einer WG im Winskiez. „Altbau.“ Sie lacht und sieht sehr glücklich aus. Überhaupt sei der „Taumel“ seit dem Erfolg von „Schönefeld Boulevard“ vor einem Jahr noch gar nicht verflogen. Als sie 2013 gerade dabei war, sich auf das Vorsprechen an staatlichen Schauspielschulen vorzubereiten, wurde sie von der Regisseurin Sylke Enders auf einem Demoband als genau das große Mädchen mit der Zahnlücke entdeckt, das sich auf der unfertigen BER-Baustelle begeistert in Begegnungen mit Fremden stürzt. Und das sich damit Stück für Stück selbst entdeckt.

Da war Jendroßek aber trotzdem schon ein alter Hase mit reichlich Theater- und auch Filmerfahrung: Schon im Kindergarten wusste sie ja, dass es herrlich war, auf der Bühne zu stehen, weil sie da „nicht eingeschränkt“ gewesen sei. Ein paar Jahre später trat sie im Friedrichstadtpalast auf, sie tanzte, spielte Akkordeon und sang. Texte lernte sie meistens mit ihrer Oma, in der 10. Klasse gründete sie zusammen mit Freunden an der Käthe-Kollwitz-Oberschule eine Theatergruppe und drehte den Film „Angsthase“.

 

Ihre Mutter bremste die Lehrer, wenn die zu ehrgeizig wurden

 

Wenn sie dann noch erzählt, dass sie zur Weihnachtszeit oft so viele Auftritte mit dem Orchester gehabt habe, dass sie und ihre Freunde die Hausaufgaben auf den Parkbänken erledigten, zwischen den Liedern auf dem Weihnachtsmarkt und mit klammen Fingern, klingt das ja fast schon ein bisschen nach Stress. Oder?

Bei dem Wort lacht sie. „Nein nein. So habe ich das nie empfunden. Ich habe da sehr viel meiner Mutter zu verdanken. Sie sagte immer, du musst das nicht machen, aber wenn du es machen willst, dann musst du morgen eben zu diesem Termin“. Und wenn die Lehrer die Sache doch mal zu ernst genommen hätten, sei es ihre „Löwenmutter“ gewesen, die gesagt habe: „Leute, lasst doch mal locker, das sind Kinder!“ Eltern müssten eben auch ein Gefühl dafür entwickeln, „ob ihr Kind das, was es da macht, auch noch wirklich will.“ Sie jedenfalls wollte unbedingt.

Deshalb gibt es natürlich auch einen aktuellen Anlass für unser Gespräch, denn Julia Jendroßek wird heute in Buket Alakus’ TV-Drama „Die Neue“ zu sehen sein (ZDF, 20.15 Uhr). Darin spielt sie die schüchterne Mia, die eine toughe neue Mitschülerin bekommt (Ava Celik), und die trägt ein Kopftuch. Die Klasse rebelliert, der Direktor protestiert, die Lehrerin moderiert, und Mia (Jendroßek) kopiert: Sie verhüllt eines Tages ihren großen Lockenkopf ebenfalls mit einem Schal. Kapiert keiner, aber die gute Lehrerin (Iris Berben) hört wenigstens zu.

 

Und dann gibt es eben auch die „stumpfen Duldungstiere“

 

Der Film, im Sommer 2014 gedreht, also noch bevor die große Migrationskrise ausgerufen wurde, hinterlässt trotzdem eine gewisse Ratlosigkeit. „Naja, er bietet vielleicht keine Lösung an“, sagt Julia Jendroßek, „aber er stellt überhaupt erst einmal Fragen“. Eine Rolle zu erarbeiten ist letztlich auch eine Begegnung mit dem Fremden, ein Prozess des Aneignens: „Du lernst sehr viel über dich, auch wenn die Figur ganz anders ist als du selbst“. Bei Mia zum Beispiel sei auch viel Cindy drin, „die ist anfangs ja auch so ein stumpfes Duldungstier.“ Das sich „Fetti“ nennen lässt und dazu schweigt.

Was natürlich die Frage nach eigenen Mobbing-Erfahrungen nahelegt. „Das Problem hatte ich zum Glück nie“, sagt sie. „Aber ich fragte mich immer wieder, warum erdulden Leute das? Bis ich merkte: Die sind ja trotzdem Teil der Gruppe, denn die anderen würden ohne diese Omega-Jungs oder –Mädchen gar nicht funktionieren. Du bist wichtig, wenn auch nur als Ventil, du wirst gesehen. Es gibt nichts Schlimmeres, als nicht gesehen zu werden.“

 

Kleider sortieren in ihrer alten Turnhalle

 

Und dann wird es plötzlich ein Gespräch über Flüchtlinge. Über die, die in Prenzlauer Berg gestrandet und jetzt genau dort notdürftig untergebracht sind, wo die kleine Julia einst tanzte und hopste, in der Turnhalle in der Wichertstraße. Seit einem Monat arbeitet sie dort jeden Dienstag und Donnerstag. Kleidung sortieren und allen Abläufen etwas Struktur geben, ein bisschen sei das wie Regie, „mit Händen und Füßen“.

Ihre Erfahrungen mit nicht gerade unkomplizierten Gruppen im Theater- und Filmbereich helfen da bestimmt, oder? Sie schaut etwas überrascht. Arbeit in Gruppen scheint ihr so selbstverständlich zu sein, dass sie darüber offenbar noch gar nicht nachgedacht hat. Als Regieassistentin war sie schon am Deutschen Theater engagiert und am Schauspiel Hannover, am Ballhaus Ost ebenso wie am Grips Theater. Vier Jahre Bühnenerfahrung im Gorki Club (Maxim Gorki Theater) brachte sie da irgendwie auch noch unter. Gerade das Gorki sage ihr ganz besonders zu (sie drückt es wirklich so aus), weil es sich darauf spezialisiert habe, sich Zuwanderern zu öffnen.

 

Da ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen

 

„Viele denken ja, das sind jetzt alles Flüchtlinge und die müssten sich verstehen“. Was natürlich Quatsch sei. „Es wird in der Wichertstraße zwar nicht ständig gestritten, aber es ist auch nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen“. Nicht nur Dutzende Sprachen und unterschiedliche Kulturen würden da ja aufeinander treffen, sondern auch völlig konträre Persönlichkeiten: „Da steht neben dir der Prof, der fließend Deutsch und Englisch spricht und sehr selbstbewusst auftritt, und dann sind da die Jüngeren, die oft ganz verschüchtert sind und stumm, die können dir teilweise noch nicht mal in die Augen sehen. Dabei könnten einem wahrscheinlich gerade die Kleineren einiges erzählen“.

Julia Jendroßek 2

Noch trägt sie kein Kopftuch: Mia (Julia Jendroßek, Mitte). Foto: ZDF/ Christian Schulz

 

Julia Jendroßek denkt deshalb darüber nach, womit man vor allem die Kinder besser beschäftigen könnte. Mit Filmabenden zum Beispiel oder Theaterbesuchen. Ballhaus Ost, Theater unterm Dach, die Wabe, da ist sie überall schon selbst aufgetreten, hat einen weiten Freundeskreis. Und sie weiß, dass es auch beim Helfen darauf ankommt, „nicht die Lust daran zu verlieren“. Der Mensch lebt eben nicht von Zahnpasta und Deo allein. Von „Lust“ auf Ehrenamt kann man freilich auch nur sprechen, wenn man in sehr sicheren Verhältnissen aufgewachsen ist. Das ist Julia Jendroßek klar.

 

Geld hilft halt manchmal schon

 

„Mein Freund kommt aus Kreuzberg, er hat mir die Augen darüber geöffnet, dass man es in vielem leichter hat, wenn man in Prenzlauer Berg aufgewachsen ist.“ Und, worin besteht denn nun dieses Andere, Besondere hier: Ist das eher eine Frage der Haltung oder des Geldes? Julia Jendroßek überlegt nicht lange: „des Geldes. Hier kannst du von deinen Eltern ja zum Beispiel verlangen, dass sie dich noch nach dem Abi finanziell unterstützen. Andere müssen mit 14, 15 ihr eigenes Geld verdienen.“ Man muss also nicht zwingend zum soziopathischen Selbstverwirklichungsarschloch heranwachsen, bloß weil man in Prenzlauer Berg ständig Kultur verabreicht bekam.

Viele von Julia Jendroßeks Freunden aus der Zeit an der (eigentlich ja naturwissenschaftlich ausgerichteten) Käthe-Kollwitz-Schule haben künstlerische Wege eingeschlagen und legen gerade Auslandsemester ein. Sie vermisst sie manchmal schon, und sie selbst ist ja auch ständig unterwegs, in wenigen Wochen beginnen die nächsten Dreharbeiten. Am liebsten, sagt Julia Jendroßek, würde sie noch einmal ein paar Tage lang in ihre alte Schule gehen. „Damit einfach nochmal alle zusammenkommen“. Irgendwie haben es die Lehrer dort geschafft, dass sich die Schüler nicht als Zufalls-, Not- oder Zwangsgemeinschaft fühlten. Sondern als Familie.

 

Den Fernsehfilm „Die Neue“ zeigt das ZDF heute (Montag, 19. Oktober 2015) um 20.15 Uhr.

 

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