Was für ein Zirkus

von Juliane Schader 16. Dezember 2013

Diabolo, Trapez, Stelzen, Akrobatik, haben die Artisten des Circus Sonnenstich alles drauf. Ob ihr Down-Syndrom sie dabei behindert? Nö. Warum sollte es? Ein Besuch beim Training.

Es ist einer dieser Tage, an denen man sich morgens besser gegen die Ringelsocken entschieden hätte. Ein Termin in einer Turnhalle, natürlich muss man da die Schuhe ausziehen. Allerdings scheinen die zwanzig Zeitsoldaten, die sich am Rand der Halle auf den Bänken drängen, auch nicht besser auf diese Situation vorbereitet zu sein. Man glaubt ja gar nicht, in wie vielen Grautönen in diesem Land Socken hergestellt werden.

Friederike lässt sich von all dem nicht ablenken. Konzentriert jongliert sie mit ihrem Diabolo (falls man mit so einem Gerät jongliert). Maria hängt derweil am Trapez und vollführt Überschläge. Immer wieder zieht sie sich an den Seilen hoch und hält in Posen inne, für die man die Muskeln eines Bodybuilders zu brauchen scheint – nur hat Maria diese in Armen dünn wie Strohhalme versteckt. Anna hat sich derweil einen riesigen Hula-Hoop-Reifen geschnappt und in Bewegung gesetzt. Dass Menschen mit Down-Syndrom auch als gehandicapt oder behindert bezeichnet werden, erscheint in diesem Moment völlig unverständlich: Daran, perfekte Akrobaten zu sein, hindert sie offensichtlich nichts.

 

Galas im Wintergarten und im Chamäleon 

 

Die drei sind Teil der insgesamt 17-köpfigen Kompanie Circus Sonnenstich, die vor 16 Jahren in Prenzlauer Berg gegründet wurde. Entwickelt hat sie sich aus dem Engagement des Vereins Sonnenuhr, welcher heute in der Kulturbrauerei das integrative Theaterprojekt Ramba Zamba betreibt. Mittlerweile ist der Zirkus eigenständig und auch alleine erfolgreich: Regelmäßig gibt es schnell ausverkaufte Galas etwa im Chamäleon oder im Wintergarten.

Einmal in der Woche trainieren die Artisten dafür in einer Turnhalle am Rande des Prenzlauer Bergs. Dort kommen auch gerne Gäste wie die oben erwähnten Zeitsoldaten vorbei, die alle in einer Umschulung zum Erzieher stecken. Später werden einige von ihnen mittrainieren und trotz ordentlicher Muskelpakete und praktischem Kurzhaarschnitt neben den Sonnenstich-Profis nicht die beste Figur machen.

Friederike macht eine kleine Pause am Diabolo. Seit zwölf Jahren ist die mittlerweile 25-Jährige schon dabei. „Ich arbeite im Büro am Computer“, erzählt sie. Kein Wunder, dass Akrobatik da einen guten Ausgleich bietet. Was sie am liebsten macht? „Alles.“

 

Kunst statt sozialer Arbeit

 

Wie Friederike sind die meisten der Kompanie schon lange dabei und gemeinsam immer professioneller geworden. Zwischen 20 und 30 Jahre alt sind sie mittlerweile. Für den Nachwuchs werden derzeit zwei neue Gruppen – einmal für Kinder, einmal für Jugendliche – aufgebaut. Das Angebot finanziert sich über die Mitgliedsbeiträge und immer mal wieder über Fördergelder. Zudem läuft gerade eine Crowdfundig-Kampage, um eine Honorarstelle zu finanzieren, die für die Koordination des beständig wachsenden Projektes dringend nötig ist. „Ohne persönliches, ehrenamtliches Engagement unserer neun Trainer und von uns ginge es gar nicht“, erzählt Anna-Katharina Andrees.

Die gelernte Schauspielerin betreibt den Zirkus gemeinsam mit ihrem Mann Michael, der als Sozialarbeiter auch Schauspiel- und Artistikkurse belegt hat. „Wir machen Kunst und keine soziale Arbeit“, erklärt sie. Wer keine Ahnung hat, spricht die professionellen Artistik-Trainer zwar auch gerne mal als Therapeuten an. Das seien sie aber gerade nicht, und das mache den Circus Sonnenstich auch aus, meint Andrees. „Wir wollen nicht therapieren. Das ist selbstverständlich mit dabei.“

Wie sie das meint? Zum einen erschließt man sich über die Bewegung und die Körperbeherrschung, die man als Artist erlernen muss, neue Ausdrucksmöglichkeiten. Zum anderen erfordert Zirkusarbeit einfach, dass man sich gegenseitig hilft. Niemand lernt einen Salto ohne Hilfestellung. „Das ist eine technische Anforderung, kein sozialer Aspekt“, erklärt Michael Pigl-Andrees. 

 

Inklusion braucht auch Rückzugsräume

 

Zudem fallen, wenn man das Training so beobachtet, noch zwei weitere Aspekte auf: Jeder hilft jedem; das ist keine Einbahnstraße von Trainern zu Artisten. Und alle scheinen gleichberechtigt. Die Kompanie funktioniert auch ohne große Stars. „In jedem unserer Programm kommen andere zum Leuchten“, sagt Pigl-Andrees.

So gut das offensichtlich alles läuft – eine Frage drängt sich doch auf: Wie halten sie es mit der Inklusion? In allen Lebensbereichen wird mittlerweile versucht, Menschen mit Behinderung zu integrieren. Nur hier im Zirkus bleiben sie unter sich. Doch auch dafür hat Pigl-Andrees eine gute Erklärung: „Diese besonderen Menschen brauchen auch besondere Rückzugsräume. Bei uns erhalten sie einen Kompetenzvorsprung; von hier aus können sie die Gesellschaft bereichern.“ Trotzdem sei der Zirkus inklusiv: Indem etwa bei den Galas auch Künstler ohne Handicap aufträten, oder Leute wie Friederike ihre gewonnenen Fähigkeiten nutzten, um eine Ausbildung zur Trainerassistentin zu machen und dann selbst wieder in andere Gruppen zu gehen.

 

Millionär, bitte melde dich

 

Tatsächlich ist die Kompanie, so eingeschworen sie auch sein mag, zugleich unglaublich offen. Die Erzieher-Soldaten werden genauso natürlich wie selbstverständlich einbezogen wie der Journalisten-Besuch. Erik, der etwas zu spät zum Training kommt, umarmt mich völlig Unbekannte zur Begrüßung, für unseren Fotografen gibt es die Ghetto-Faust. Dennis will wissen, warum wir da sind. Hier, Diabolo, Trapez, probier doch auch mal. Ich kann etwas Tolles, das kannst Du auch lernen – so funktioniert der Zirkus.

Kein Wunder also, dass der Andrang mittlerweile groß ist und viele mitmachen wollen. Doch die Kapazitäten sind, noch, begrenzt. Zwar haben Anna-Katharina und Michael Andrees vor zwei Jahren mit dem Zentrum für bewegte Kunst (ZBK) bereits eine Dachorganisation gegründet, unter der die Zirkusidee weiter ausgebaut werden könnte. Doch bislang fehlt das Geld, um die großen Pläne auch in die Tat umzusetzen. Die Vision eines eigenen Hauses als zentrale Anlaufstelle mit Trainingräumen, Cafés und einem Büro, in dem die Artisten auch arbeiten könnten, ist da. Nur den Millionär, der das finanziert, fehlt noch. Er könne sich aber jederzeit bei ihnen melden, meinen die beiden Andrees.

Auch im kommenden Jahr wird der Circus Sonnenstich wieder auftreten. Termine stehen zwar noch nicht fest, werden aber rechtzeitig auf der Website bekannt gegeben.

 

 

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