Die Geschichtenerzähler von Station 113

von Juliane Schader 20. Dezember 2011

Einmal in der Woche treffen sich die Patienten der geriatrischen Station des Klinikums am Friedrichshain zum Erzähl-Salon. Selbst zur Weihnachtszeit ist jede ihrer Geschichten auch eine vom Krieg.

Zum Glück ist der kleine Konferenzraum der Station 113 heute ein wenig überheizt. So müssen die Gäste, die in Schlafanzug oder Bademantel gekommen sind, nicht zu sehr frieren. Zehn ältere Herrschaften sitzen rund um den kleinen, mit Adventskranz, Kerzenleuchter und Plätzchentellern dekorierten Tisch hier auf der geriatrischen Station des Vivantes-Klinikums an der Fröbelstraße und warten auf Katrin Rohnstock. Seit September hält die Gründerin der Rohnstock-Biografien wöchentlich einen Erzähl-Salon auf der Station ab, in dem die hochbetagten Patienten Geschichten aus ihrem Leben berichten können. „Ein besonderes Weihnachten“ lautet das Thema heute.

Bevor es losgeht, begrüßt Rohnstock jeden der Gäste persönlich. Sie gibt ihm die Hand, stellt sich vor und fragt so oft nach, bis sie dessen Namen auch richtig verstanden hat. Einige hören nicht mehr so gut, sprechen undeutlich, sind desorientiert. Doch wenn sie Geschichten aus ihrer Kindheit und Jugend erzählen, blühen sie auf, wie sich später zeigen wird.

 

Die eigene Lebensgeschichte erzählen tut gut

 

„Vor einen Jahr lag ich mit einer schweren Lungenentzündung in diesem Krankenhaus“, erzählt Rohnstock. Weil auf keiner anderen Station ein Bett für sie frei gewesen wäre, habe man sie in der geriatrischen Abteilung untergebracht, wo sie das Zimmer mit einer dementen 85-Jährigen geteilt habe. „An ihr konnte ich sehen, wie gut es alten Menschen tut, wenn sie aus ihrem Leben erzählen können“, meint sie. So sei sie auf die Idee gekommen, das Konzept der Erzähl-Salons, die ihr Unternehmen schon lange veranstaltet, auf der geriatrischen Station zu etablieren. Mit Hilfe der Krankenhaus-Psychologin Frau Rößler wurde der zuständige Chefarzt überzeugt; seitdem findet sich der kleine Erzählkreis jeden Montag zusammen.

Den Anfang macht heute ein 90-jähriger Herr, dessen Name wie der der anderen Patienten nicht in der Zeitung stehen soll. „Wir waren vier Kinder, mein Vater war arbeitslos, Geld für einen Weihnachtsbaum hatten wir nicht“, erzählt er. „Wir sprechen von der Zeit 1920 bis 25.“ Als der Vater dann am 24. kurzentschlossen doch noch losgezogen und mit ein paar Tannenzweigen nach Hause gekommen sei, habe man einfach Löcher in den Besenstiel gebohrt. „Da haben wir die Zweige reingesteckt – so hatten wir unseren Baum“, meint er. Die Gruppe lacht. Doch die Geschichte geht weiter.

Von seinen drei Geschwistern erzählt der alte Mann, von den 18 Reichsmarkt, von denen die sechsköpfige Familie in der Woche leben musste und von seiner Freundin, die zum Ende des 2. Weltkrieges bei einem Bombenangriff in der Siemensstadt starb. Bis heute weiß er noch genau ihr Todesdatum. Denn dieser Krieg hat sich die in Köpfe der Menschen gefressen, die ihn erlebt haben. So oft Katrin Rohnstock auch das Gespräch auf die Feiertage zu lenken versucht, er wird das große Thema der kommenden 90 Minuten bleiben.

 

Unauslöschbare Erinnerungen an die verlorene Heimat

 

Schließlich tragen die Erinnerungen an Weihnachten die alten Herrschaften zurück an die Orte ihrer Kindheit. Sie heißen Tilsit, heute russisch Sowetsk, Kreuzweg, heute tschechisch Křížatky oder auch Dresden und Hamburg. Der Krieg hat sie von dort vertrieben, das wissen selbst jene, die im Alltag Schwierigkeiten haben, den Überblick über die Wochentage zu behalten. Wer fragt, wie sie früher Weihnachten erlebt haben, fragt auch, warum sie heute nicht mehr in ihrer Heimat leben. So wird der Erzähl-Salon zur Geschichtsstunde.

Die Dame aus Tilsit berichtet, wie sie 1939 von einem Tag auf den anderen aus Ostpreußen Richtung Süden umgesiedelt wurden. „Das hing ganz einfach damit zusammen, dass der Hitler dann seine verrückten Kriege anfing“, meint sie. Der Herr aus Hamburg erzählt, wie er als Sechsjähriger noch die Panzersperren gegen die anrückenden Alliierten mit aufgebaut hat – „Wir haben Steine getragen. Das war für uns wie Spielen.“ Und eine Dame in hellgrünem Strickpullover und farblich passender Hose berichtet von ihrer Kindheit in Dresden mit einem jüdischen Vater und der arischen Mutter, die sich nicht scheiden ließ und ihn somit vor der Deportation bewahrte. „Als die Russen 1945 kamen war das für uns eine Befreiung“, sagt sie. Ein russischer Offizier habe ihnen eines Tages eine große Tüte voller Lebensmittel gebracht. „Als Dank, dass wir es so lange ausgehalten haben.“

 

Textsicher durch drei Strophen „O Tannenbaum“

 

Katrin Rohnstock lässt sie erzählen, fragt nach und beweist eine große geographische Ortskenntnis in den ehemals deutschen Ostgebieten. Wenn jemand doch zu sehr abdriftet oder den Faden verliert, greift Ivana Stancheva zum Akkordeon. Die bulgarische Künstlerin unterstützt Rohnstock bei den Salons, und wenn sie „O Tannenbaum“ anstimmt, zeigt sich, dass viele der Patienten bis heute alle drei Strophen des Liedes auswendig können.

Als die Uhr an der Wand schon fast Mittag zeigt, kommt als letzter ein alter Mann zu Wort, der bislang, bekleidet mit einem weißen Bademantel über seinem blau karierten Schlafanzug, schweigend und zusammengesunken in seinem Rollstuhl saß. Schleppend berichtete er von seiner Familie, Tannenbäumen und landet dann doch wieder bei Krieg. „Das ist zum Kotzen“, meint er zum Abschluss. „Ich dachte, ich hätte das längst überwunden – aber das kann man nicht.“  



 

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