Der grüne Preuße von Prenzlauer Berg

von Redaktion der Prenzlauer Berg Nachrichten 8. Dezember 2010

Seine Gegner sagen, er verkenne Prenzlauer Berg. Ausgerechnet er, der seit 1979 hier lebt. Jens-Holger Kirchner will Ordnung von unten schaffen. Zur Not auch gegen die eigene Wählerklientel.



Wenn Jens-Holger Kirchner aus dem Fenster seines Büros schaut, dann scheint der Ort, der ihm gerade so viel Ärger bereitet, ganz weit weg zu sein. Vor Kirchner tun sich Industriebrachen und verschneite Felder auf, an der Endhaltestelle drehen Busse der Linie 255 ihre letzte Schleife. Behaglich warm ist es im Büro des Stadtrats für öffentliche Ordnung. Er bietet Tee statt Kaffee an und schiebt eine Kiste Weihnachtskekse über den Tisch. Kirchners Dienstsitz, das Tiefbauamt Pankow, ist ein flacher Plattenbau mit wenig Publikumsverkehr. „Ah, sie haben uns also gefunden“, sagt die Sekretärin nach dem Anklopfen.

Im Tiefbauamt hängen große Karten an den Wänden. Prenzlauer Berg schrumpft dort zusammen zu einer Ansammlung großer und kleiner Bauklötze. Ordnung ins Chaos bringen schnurgerade Schneisen. Auch die Kastanienallee ist eine solche Schneise. Der Senat hält sie sogar für eine Hauptverkehrsstraße, auch wenn manche ihrer Bewohner das ganz anders sehen. Von der Kastanienallee gibt es jetzt eine feinsäuberliche Zeichnung. „Genau. Richtig“, steht darunter. Es ist der Wahlspruch des Planungsbüros, das die Umgestaltung der Straße zu Papier gebracht hat.

Vor knapp einem Monat beugten rund 30 Bürger ihre Köpfe darüber, es war ein Abend, an dem die Pläne ein letztes Mal vorgestellt werden sollten. „Die Straße wird so gebaut, das können sie jetzt auch nicht mehr aufhalten“, rief damals der Leiter des Tiefbauamts Pankow, Peter Lexen, in den viel zu großen Raum. Jens-Holger Kirchner, der verantwortliche Stadtrat, saß neben ihm. Ob er damals schon wusste, dass dies nicht das Ende der Bürgerbeteiligung sein wird, sondern erst deren Anfang?

War da was mit der Kastanienallee? Kirchner wirkt wie verwandelt

Irgendetwas scheint in der Zwischenzeit passiert zu sein. Über Kirchner hat man sonst immer nur gehört, da regiere ein grüner Betonkopf, der zugunsten von Senat und BVG  kaltschnäuzig die Wünsche von Anwohnern ignoriere. Jetzt ist man erstaunt darüber, wie bereitwillig der Stadtrat über Kompromisse spricht. Es soll noch weniger Parkplätze geben nach dem Umbau? Ja, das lässt sich machen. Ein Vertrag mit den Anwohner über die Pflege der Straße? Ja, der liegt schon unterschriftsreif in der Schublade. Eine Absenkung der Gehwege? Ja, das kann ich mir gut vorstellen.

Jens-Holger Kirchner hat wohl verstanden, dass eine Dauerfehde mit den Bürgerinitiativen rund um die Kastanienallee ihn das Amt kosten könnte. Nicht das des Stadtrats, aber das des Bezirksbürgermeisters. Denn Bürgermeister wolle er auf jeden Fall werden, das sagen viele in Prenzlauer Berg. Vor einigen Wochen war Kirchner von einer Zeitung als Senator in einem künftigen Senat Künast gehandelt worden. Was ihm wohl lieber wäre? Er mache das, wozu er gerufen werde, antwortet Kirchner. Und es sei im Übrigen alles andere als sicher, dass die Grünen in Pankow stärkste Partei würden.

Es gibt drei Sätze, die zuverlässig alle 20 Minuten fallen, wenn man sich mit Kirchner unterhält und ihn dabei auf Klagen und Einwände der Bürger anspricht: „Das ist eben Kommunalpolitik. Und das ist auch der Grund, warum ich gerne Kommunalpolitiker bin. Man muss immer den Ausgleich suchen. Das macht mir Spaß.“ Kirchner kennt Prenzlauer Berg besser als die meisten anderen Kommunalpolitiker im Bezirk, er wohnt seit 1979 hier, er kennt sie noch, die berühmten Außenklos und den Schimmel an den Wänden.

Er unterschreibt auch mit Nilson – so nannten sie in damals

Knaackstraße 90, linkes Hinterhaus, Wohnung rechts oben. Das war seine erste Adresse im Bezirk, er besetzte eine leerstehende Wohnung, so wie man es damals eben machte. „Wir hatten unsere Nische“, sagt Kirchner. Dann sagt er: „Alles war grau, die Braunkohleschwaden hingen über den Häusern.“ Er sehne sich nicht danach zurück. „Wir waren etwas besonderes damals, aber besonders sein, das war damals nicht schwer.“ Kirchner, gelernter Tischler und Erzieher, engagierte sich für Spielprojekte im Bezirk, kandidierte bei der ersten Kommunalwahl nach der Wende als Parteiloser auf der Liste der PDS, war dann Bezirksverordneter für das Bürgerbündnis Prenzlauer Berg und trat 2001 bei den Grünen ein. Wenn er eine Vorlage unterschreibt, setzt er manchmal das Wort Nilson in Klammern zwischen Vor- und Nachname. „Nilson“, so wurde er in Prenzlauer Berg früher genannt, eine Anspielung auf Nils Holgersson.

Es sei in Ordnung, wenn etwas verschwinde, so lange etwas Neues kommt, sagt Kirchner, und wieder ist man bei dem unvermeidlichen Thema Kastanienallee. Der Stadtrat wird auf einmal richtig wütend. „Jetzt werden sogar noch die Straßenlaternen dort zum Thema. Wissen Sie wo dieser Typ von alter Ostlampe einmal stand? Am Todesstreifen, von der Oderberger aus hat man das gut sehen können. Jetzt wird auch noch für diese schrecklichen DDR-Lampen gekämpft, nur weil manche nicht wollen, dass es dort so aussieht, wie in der Gegend, aus der sie kommen, in Stuttgart oder München.“

Ausgerechnet ihm, dem Hausbesetzer, der die Kastanienallee schon Anfang der 80er Jahre kannte, werfen sie nun vor, er verstehe den kulturellen Wert der Straße nicht. „Die Kastanienallee ist eine Touristenmeile. Man soll jetzt nicht so tun, als könne plötzlich ein Geist der Straße beschworen werden“, sagt Kirchner. Vielleicht hänge der Widerstand auch einfach damit zusammen, dass man gerne in schick sanierten Wohnungen lebe, die Straße davor aber lieber etwas verranzt aussehen solle.

Ordnung und Verbote – dem Grünen fällt vieles dazu ein

Kirchners Kritiker lassen das nicht gelten. „Er hat zuviel Angst vor der Bürokratie“, sagt der wortgewaltige Vertreter einer Bürgerinitiative aus dem Kiez. Sein Dilemma sei, dass die Grünen im Bezirk Pankow eigentlich nicht mitregierten. Kirchner aber trotzdem Vertreter der Verwaltung sei. SPD und Linke seien ständig versucht, den Stadtrat vorzuführen. Und dann sei da noch Kirchners eigene Partei, die ja schließlich im nächsten Jahr Berlin regieren wolle und Leute wie ihn brauche, um ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.  

Womit man am Schluss wieder beim Begriff des grünen Sheriffs wäre. Wenn man Kirchner in seinem Büro gegenübersitzt, ist im Hintergrund ein Schild zu sehen. „Ablagern von Laub, Garten- und anderen Abfällen jeglicher Art ist VERBOTEN. Zuwiderhandlungen werden nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz STRENG geahndet“, steht darauf. Es ist ein Schild, das man bei einem Grünen nicht erwartet. Kirchner fällt vieles dazu ein. Unter anderem die Bemerkung, dass man in einer Gesellschaft nur frei sein könne, wenn man auch Verantwortung übernehme. Oder der Eindruck, dass heute in Prenzlauer Berg und anderswo nicht mehr miteinander geredet, sondern lieber mit dem Anwalt gedroht werde. Es geht um zwei Arten von Bürgerlichkeit. „Ordnung kommt von unten“, sagt Kirchner. Da hat man schon längst geahnt, dass der Streit um die Kastanienallee nicht der letzte Disput mit der eigenen Wählerklientel gewesen sein wird.

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