Iss gut jetzt!

von Cosima Lutz 4. April 2016

Ist bio nur teuer oder auch lecker? Im „Diderot“ in der Raabestraße können Gäste bei Verkostungen und Vorträgen ihr Geschmacks-Wissen schärfen.

Eigentlich ist es ja ganz einfach: Etwas essen. Was man gerade isst, gut finden. Oder eben nicht. Futtern, bis man satt ist. Oder auch mal darüber hinaus. Kein Problem. Quatsch, natürlich ist das alles ein Problem. Es fängt ja schon mit der Frage an, welche Lebensmittel überhaupt wo, wann und warum eingekauft werden sollten. Die frisch eingeflogene ungespritzte Mango? Die Billiggurke von nebenan? Die Biomilch aus dem Discounter? Bio ist doch immer gut, oder?

„Was heißt denn überhaupt ,gut’?“ fragt Florian, einer der Teilnehmer eines Workshops mit dem provokanten Titel „Lecker! – Schmecke ich, aus welchem Markt die Lebensmittel stammen?“ Wir befinden uns im „Diderot“ in der Raabestraße, einer neu eröffneten Lokalität für „Kultur und Essen“. Schon der Zweifel an der Aussagekraft des Wörtchens „gut“ (von „bio“ ganz zu schweigen) zeigt, wie schnell die einfachsten Fragen ins Philosophische ausgreifen, sobald man ohne Vorwissen und Werbebotschaften im Kopf alltäglichste Nahrungsmittel bewerten soll.

 

Entscheidet über das Gute der Gaumen? Das Gewissen? Oder der Darm?

 

Florian hat, wie wir anderen Workshop-Teilnehmer auch, drei Milchgläschen vor sich. In Fragebögen sollen wir Aussehen, Geruch, Geschmack und Textur mittels Schulnoten bewerten, aber auch mit eigenen Worten beschreiben und am Ende tippen: Na, welche davon ist die Biomilch? Es ist wie im Märchen: Die drei sehen ziemlich gleich aus, aber nur eine davon ist die verzauberte Prinzessin. Die Stiefschwestern heißen Marken- und Discount-Produkt.

Aber wir sind hier nicht in der Märchenstunde. In Schulfächern gesprochen, gleicht das Thema Essen derzeit wohl am ehesten einer Art Religionsunterricht. Erlösung, so lauten die Botschaften der Veganer-, Vegetarier-, Rohkost-, No-Carb- oder Paläo-Szene, Erlösung erlangt der Mensch durchs Weglassen des Falschen und die Hinwendung zum Guten. Aber wer bestimmt „das Gute“: eine EU-Richtlinie? Gurus? Die Medizin? Ist das Gute eine Norm, die sich mit Etiketten wie „Bio“ ganz einfach identifizieren lässt? Entscheidet über das Gute schon der Gaumen? Oder erst der Darm?

 Drei Gläser MilchDrei Mal Milch, nur einmal Bio. Sieht doch alles gleich aus. Also fast.                Foto: Cosima Lutz

 

Was Ulf Poschardt einmal die Ablösung des Bildungsbürgertums durch das Geschmacksbürgertum nannte, existiert in unserem kleinen Bio-Top Prenzlauer Berg ja gefühlt in verdichteter Form. Der Bezirk scheint oft das Labor für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zu sein.

 

Bin ich gut, und wenn ja, wie bio?

 

Deshalb wollen wir diese Woche mal genauer wissen, wie „bio“ Prenzlauer Berg eigentlich ist. Können wir ein Bioprodukt überhaupt erkennen, wenn wir es direkt vor der Nase haben, uns aber niemand sagt, ob es bio ist? Klafft zwischen der Behauptung, ökologisch einzukaufen, und dem tatsächlichen Bio-Einkauf eine Lücke wie im restlichen Deutschland auch, wie der wissenschaftliche Leiter des „Diderot“, Christoph Klotter, meint? Predigen wir bloß bio und essen in Wahrheit doch nur Erzeugnisse der „konventionellen“ Agrarindustrie? Gott bewahre!

Gegen die selbst verschuldete Unmündigkeit beim Essen hilft dann wohl nur Aufklären im Sinne des französischen Denkers Denis Diderot (1713-1784). Das finden jedenfalls Christoph Klotter und die Ökotrophologin Eva-Maria Endres. Ihr im Dezember eröffnetes „Diderot“ ist nicht einfach nur ein Restaurant. Es ist auch ein Denk-Labor.

 

Wissenschaft, Handwerk und Genuss an einem Tisch

 

Die beiden Wissenschaftler und Genussmenschen (der Ernährungspsychologe Klotter ist Professor in Fulda, Endres hat eine deutschlandweite Slow-Food-Jugendbewegung mit aufgebaut) lassen sich von der Tatsache leiten, dass in Diderots Lebenswerk, der „Encyclopédie“, gleichberechtigt Handwerker, Philosophen und Künstler das Wissen ihrer Zeit interdisziplinär versammelt haben: „Wissenschaft, Handwerk und den Genuss“ wollen sie wie Diderot „an einen Tisch bringen“. Aber eben nicht nur auf dem Papier, sondern real, gesellig und schmeckbar. Das „Diderot“ soll sich übrigens in den Räumlichkeiten eines einstigen Freudenhauses befinden. Sinnlichkeit und Schulung des Verstands, hier werden sie ohnehin nicht als Gegensatzpaar aufgefasst.

Ganz allein mit den drei Milch-Pröbchen und den eigenen Sinnesorganen, schnuppert jeder der Gäste still vor sich hin, lauscht in sich hinein, guckt an die Wand. Schmeckt nach, denkt nach. Sucht nach Worten. Schon der Titel der Veranstaltung wird gleich diskutiert: Bei Rewe und Aldi gebe es ja schließlich auch Bioprodukte, sagt jemand, „und gute Qualität findet man auch bei konventionellen Lebensmitteln“. Gastgeber Klotter stimmt zu: „Und handwerklich Hergestelltes kann auch schlecht sein.“ Alle Proben für diese Veranstaltung habe man im Supermarkt gekauft – Ausnahme sei nur die Milch, davon stamme eine direkt vom Biobauernhof.

 

Auf der Suche nach der Milch-Lyrik

 

Ja, also: Ist es denn nun zum Beispiel ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, wenn die Milch etwas gelblich ist und süßlich riecht? Wenn sie leichte Sämigkeit am Glasrand hinterlässt? Auf der Zunge eine säuerliche Note hat? Gemeinsam stellen wir fest, dass wir gar keine richtige Sprache für Milch haben: „Gibt’s so was wie Milch-Lyrik?“ fragt einer. Und obwohl Paul Celans Todesfuge mit ihrer „schwarzen Milch der Frühe“ an dieser Stelle niemand erwähnt, wird es nicht lange dauern, bis wir die Frage diskutieren, ob der Mensch von sich aus böse sei oder gut.

Wie schnell es ans Eingemachte geht, wie regelmäßig Pröbchen für Pröbchen immer größere weltanschauliche Fässer aufgemacht werden, ist schon erstaunlich. Skepsis auch während der quasiparadiesischen Apfel-Runde: „Schwierig zu beurteilen“, sagt Teilnehmer Michael auf der Suche nach Erkenntnis, „wegen des Erwartungshorizonts, weil ich ja schon eine gewisse Vorstellung davon habe, wie ein Bio-Apfel schmeckt“. Andere nicken, der Apfel mit der dicksten Schale könnte es sein, oder der mit dem kräftigsten Geschmack. Wissen und Vorurteil, wie verhalten die sich zueinander? Schmecke ich nur, was ich glaube zu schmecken?

 

Glattsein ist schön und gut

 

Nach jeder Verkostung gibt’s die Auflösung. Bei der Milch bekommt tatsächlich die Bio-Version mit 2,1 die beste Note, 89 Prozent tippten richtig. Bei den Äpfeln schneidet der Bio-Apfel nur mittelmäßig ab, sein Geschmack wurde als „wässrig“ bis „muffig“ beschrieben, kaum jemand hielt ihn für bio. Angenehm „nach Weintrauben“ und offenbar deshalb irgendwie nach bio schmeckte vielen dagegen ausgerechnet, wie sich herausstellt, der Discount-Apfel. Tja. „Lidl & Co. werben zwar mit dem Image von Natürlichkeit und Handwerk“, sagt Eva-Maria Endres, „aber die Produkte selbst spiegeln ja, was vom Kunden wirklich gut gefunden wird: Standardisierung und Ebenmäßigkeit.“

Die Mienen in der Verkostungsrunde hellen sich immer wieder erstaunt auf und verdunkeln sich, aber die Skepsis scheint sich gleichermaßen gegen das eigene Urteilsvermögen zu richten wie gegen die Produkte und die Fragebögen. Einer verweigert die Schulnoten komplett und regt an, sich doch zunächst einmal über „objektive“ Kategorien des Wünschenswerten zu verständigen, im gemeinsamen Gespräch einander „Input“ zu geben und so einen „sprachlichen Referenzrahmen“ zu schaffen. Man merkt, dass die Gäste teilweise selbst mit Essen befasste Kulturwissenschaftler sind. Ein Ex-Landwirt und Agrarwissenschaftler ist auch dabei. Und junge Studenten, die sich fröhlich als Genießer bezeichnen.

 

Schlauer futtern: Homo sapiens heißt ja auch „der Schmeckende“

 

Schmeckend und fragend tasten wir uns also durch insgesamt sechs Nahrungsmittel, und immer mehr Fragen tauchen auf. Klotter scheint sich über jede einzelne davon zu freuen. „Homo sapiens“, das heiße eben nicht nur der Wissende, sondern auch der Schmeckende, füttert er uns entspannt mit Wissens-Happen. Als jeder Gast drei Brotstückchen erhält, bekommt das Ganze eine gewisse Abendmahls-Feierlichkeit. Aber glauben wir auch, was wir da sehen? Die Bio-Variante sieht nämlich so eindeutig handgemacht aus (die beiden anderen wirken wie Industrieschwämme und schmecken auch so), dass das Raten ad absurdum geführt wird. Niemand spielt den ungläubigen Thomas und alle tippen auf Bio. In diesem Fall liegen wir zu 100 Prozent richtig.

Das Auge isst eben mit, und das ist, bei Verkostungs-Laien wie uns, teilweise ein Problem. Eine Teilnehmerin äußert den Wunsch, nächstes Mal doch lieber eine Blindverkostung zu machen. Ein anderer kann sich vorstellen, mal umgekehrt Marken-Cola in die Discounter-Flasche abzufüllen. Oder, ergänzt Klotter, Discount-Käse zu essen, während ein Alpen-Idyll an die Wand projiziert wird. Wie soll man Herstellern und Läden trauen, wenn nicht einmal die eigenen Sinne das ethisch und geschmacklich „Gute“ vom „nicht so Guten“ unterscheiden können?

 

Natürlichkeit war schon immer ein „Spaltprodukt“

 

„Was heißt überhaupt Natürlichkeit?“ fragt da nun wieder Christoph Klotter, während wir inzwischen an heißen Kartoffeln mümmeln. „Die Sehnsucht nach der Natur existiert ja erst, seit die Schornsteine rauchen.“ Sie sei ein „Spaltprodukt“ der Industrialisierung. A propos Spaltprodukt: Bei den Kartoffeln bekommt die Marken-Knolle die beste Note, der Geschmack der Biokartoffel wird hingegen zwiespältig beurteilt, Trefferquote: 50 Prozent. 

„Gut“ ist auch immer häufiger das Einheimische. Was in Deutschland insofern ein Problem ist, als die Nachfrage an Bio-Lebensmitteln das hier produzierte Angebot längst übersteigt – Bio-Kartoffeln kommen schon auch mal aus Polen. Der Agrarwissenschaftler neben mir behauptet, man könne die Region aus einem Lebensmittel herausschmecken. Bei den Kartoffeln liegt er allerdings komplett daneben, gibt er zu. Kartoffeln stammen sowieso aus Südamerika, wirft ein anderer ein, die Gleichung „Deutsche = Kartoffelesser“ sei also gar nicht korrekt, ein Mythos, ein bloßes Image. Schon sind wir bei den kulturellen Implikationen: Abgrenzung durch Speisegewohnheiten. Der junge Franzose am Nebentisch sagt schmunzelnd, dass ihm bisher zielsicher immer das teuerste Produkt am besten geschmeckt habe.

Einen Ort wie das „Diderot“, in dem die vielen Verbindungen zwischen Psychologie, Kulturgeschichte und Essen ohne akademischen oder Foodie-Trendsetter-Dünkel gemeinsam diskutiert und ausprobiert werden können, dürften viele in Prenzlauer Berg bisher vermisst haben. Die Orientierungsnot ist hier schließlich besonders groß. Und Essen war schon immer mehr als nur Physiologie und Medizin, sondern immer auch ein „Symbol“, zitiert Klotter in seinem abschließenden Vortrag zum Thema „Geschmack“ Jean-Paul Sartre: „Und wenn wir bestimmte Symbole nicht essen, werden wir nicht satt“.

 

Beim Essen sind wir alle Sadisten

 

Auch dass Essen laut Freud immer ein „oral-sadistischer Akt“ sei, dürfe man in diesem Kontext nicht vergessen, sagt Klotter: Als die Türken vor Wien gestanden hätten, noch lange vor jedem Spätzle- und Wecken-Krieg, habe man sich mit dem Croissant/ Kipferl den orientalischen Halbmond einverleibt. Das sei nichts anderes gewesen als die „symbolische Vernichtung des Feindes im Essakt“. Puh. Ist das Kringelchen im AfD-Logo womöglich ein Croissant?

Lieber nicht weiterdenken. Dafür erfand der aufgeklärte Mensch ja schließlich das gepflegte Tischgespräch: Damit wir nicht ständig an unsere grausame, verschlingende, vernichtende Seite erinnert werden. Unter dem Firnis der guten Manieren lauert immer der Schlachter in uns selbst. Im „Diderot“ hat auch diese nicht ganz so leckere Wahrheit ihren Platz. Und vielleicht war es lange nicht mehr so wichtig wie im Moment, darüber nachzudenken, was wir uns gerne einverleiben wollen und was draußen bleiben soll.

 

Die einzelnen Ergebnisse der Verkostung verrät unser Klischee-Check!

 

Das „Diderot“ in der Raabestraße 1 hat täglich von 12-20 Uhr geöffnet. Montag bis Freitag gibt es ein warmes Tagesgericht. Zu den Veranstaltungen gehört ein Jour Fixe zu Politik und Philosophie, Workshops, Kinderprogramme und psychologische Beratung bei Übergewicht. Außerdem bietet das „Diderot“ einen Bestellservice für regionale Produkte.

 

 

Wenn Ihr mehr lesen wollt über das, was vor Eurer Haustür passiert, dann werdet jetzt Mitglied der Prenzlauer Berg Nachrichten.

Damit macht Ihr diese Berichterestattung möglich, bleibt mit unserem Newsletter auf dem Laufenden und erfahrt alles über die wichtigen Themen im Kiez.

Das könnte Dich auch interessieren

Hinterlasse einen Kommentar