Was hat der Milchschaum mit der Verdrängung zu tun?

von Gastautor 25. Januar 2011

Stadtsoziologe Andrej Holm über Gentrifizierung in New York und Prenzlauer Berg und den Milchschaum vor dem Mund von Peter Dausend.

Die Debatte um die Veränderungsprozesse in Prenzlauer Berg geht weiter: Nach dem Bötzow-Blues von Peter Dausend und der Erwiderung darauf durch den gelernten „Eisenbieger“ Hans-Otto Bredendiek folgt nun ein Debattenbeitrag des Stadtsoziologen Andrej Holm, der sich bereits an anderer Stelle zur Thematik geäußert hatte.

 

GASTBEITRAG VON ANDREJ HOLM

 

Prenzlauer Berg gilt mittlerweile als Paradebeispiel für die Gentrification von Stadtvierteln. In zwanzig Jahren Stadterneuerung wurden nicht nur die Häuser umfassend modernisiert, sondern auch die Bewohnerschaft umgekrempelt und der Gewerbestruktur ein völlig neues Gesicht verpasst. Doch ein Stadtviertel lässt sich nicht nur über Baukörper und Bevölkerungsstatistiken beschreiben, sondern auch über Stimmungen, Images und die Alltagspraktiken der Menschen, die es sich tagtäglich aneignen und neu erschaffen. Die amerikanische Soziologin Sharon Zukin beschreibt in ihrem aktuellen Buch „Naked City. The Death and Life of Authentic Urban Places“ diese kulturellen Dimensionen des Städtischen als Authentizität des Ortes und beklagt die Veränderungen in vielen gentrifizierten und runderneuerten Stadtteilen als den Verlust der Seele der Stadt. Vielleicht eine Anregung, sich auch in Prenzlauer Berg auf die Suche nach der Seele des Stadtbezirks zu begeben.   

 

Aufwertung und Verdrängung

 

Sharon Zukin beschreibt für New York zunächst eine enorme Stadterneuerungstätigkeit in den letzten 15 Jahren, da sich bis zur Finanzkrise Immobilienmarkt und Banken dabei überschlugen, mit der Aufwertung von Wohnungen viel Geld zu verdienen. Auch die Oberflächenbeschreibung der Veränderungen in Prenzlauer Berg seit der Wende ist schnell zusammengefasst. Angestoßen von öffentlichen Anreizen direkter Fördermittel und Steuererleichterungen in der Höhe von insgesamt 1 Mrd. Euro wurden mehr als 80 Prozent der sanierungsbedürftigen Wohnungen modernisiert. Die Viertel hier zählen heute zu den attraktivsten der Stadt. Neuvermietungsmieten und Kaufpreise von Eigentumswohnungen erreichen Berliner Spitzenwerte. Sozialstudien in den mittlerweile entlassenen Sanierungsgebieten zeigen, dass nur noch knapp 20 Prozent der früheren Bewohner/innen in den Nachbarschaften leben. Eine hohe Mobilität allein ist noch kein hinreichender Hinweis auf eine Gentrification. Doch in Prenzlauer Berg hat sich eine wanderungsinduzierte Neuzusammensetzung der Sozialstruktur vollzogen. Die soziale Mischung zu Beginn der 1990er Jahre hat sich in eine weitgehend homogene Bevölkerungsstruktur aufgelöst. Die traditionellen A-Gruppen wie Alleinerziehende, Alte, Arme und Arbeiterfamilien sind fast völlig aus den Gebieten verschwunden – dafür sind mit den Architekt/innen, Anwält/innen und anderen Akademiker/innen neue A-Gruppen eingezogen. Die Durchschnittseinkommen des Bezirks haben sich im Vergleich zum städtischen Durchschnitt von 70 Prozent (1993) auf 140 Prozent (2008) erhöht. Der Anteil von Akademiker/innen hat sich mehr als verdoppelt und in Gebieten wie dem Kollwitzplatz haben über zwei Drittel der Erwachsenen eine Hochschulausbildung abgeschlossen oder streben eine solche an. Noch Anfang der 2000er Jahre wurde über die Bewertung des Bevölkerungswandels gestritten, da der noch nicht abgeschlossene Verdrängungsprozess verschiedene Interpretationsspielräume zuließ. Mittlerweile wird der Gentrification-Befund nur noch in Nischen der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten angezweifelt.  

 

Deutungsgerangel

 

Begleitet wurden die Veränderungen der letzten Jahre von emotionalen und leidenschaftlich geführten Debatten, denn insbesondere für die Verdrängung der früheren Bewohner/innen wollte niemand verantwortlich sein. Mit der Ausweisung großer Teile der Altbauviertel zu förmlich festgelegten Sanierungsgebieten wurde Anfang der 1990er Jahre das öffentliche Ziel einer „Behutsamen Stadterneuerung“ ausgerufen. Auf dem Programmzettel der Stadtplaner und zuständigen Senatsverwaltung stand nichts weniger als die Quadratur des Kreise: trotz weitgehend privatfinanzierter Investitionen sollten die Bausubstanz aufgewertet und die Sozialstrukturzusammensetzung erhalten werden. Während die Erneuerung der Bausubstanz als durchschlagender Erfolg angesehen werden kann, ist das soziale Sanierungsziel auf der Strecke geblieben. Die Debatten sind geblieben, haben sich aber von einer Diskussion um die Einschätzung der Veränderungen (Gibt es Verdrängung und Gentification?) in eine um die Bewertung der nun durchgesetzten Zustände (Ist es nicht schön, wie es ist? Warum sollten wir den alten Zeiten hinterher trauern?) verschoben. Die jüngst auch in den Prenzlauer Berg Nachrichten ausgetragenen Revierkämpfe um die ‚richtige‘ Beurteilung einer Fotoreportage über den Wandel einer Straße kann als Prototyp der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit des Bezirks verstanden werden. Ost gegen West, Alteingesessen gegen Neuhinzugezogen – die Konfrontationslinien scheinen klar verteilt. Auslöser war eine längere Dokumentation in der Zeitschrift GEO. Unter der Überschrift „Ausgetauscht: Fassaden, Geschäfte, Anwohner. Geschichte, Heimat, Gedächtnis.“ wurde Harf Zimmermann auf der Suche nach den Motiven seiner 1987 gemachten Bilder durch die Hufelandstraße begleitet. Während die einen sich in ihren persönlichen Verlusterfahrungen bestätigt sahen, interpretierten andere den Bericht als Kritik an ihrer Lebensweise und verteidigten, wie PBN-Autor Peter Dausend, ihr Recht auf den „Milchschaum vor Mund“. 

 

Identitätsverlust in den Nachbarschaften

 

Sharon Zukin zeigt, dass solche Auseinandersetzungen kein Spezifikum von Prenzlauer Berg sind. Sie zeichnet ein bedrückendes Bild der städtischen Entwicklungsdynamiken in New York seit der Jahrtausendwende. Durch die ständige Veränderung und Zerstörung bestehender Strukturen habe „einen Nachbarschaft nach der anderen ihre lokale Identität verloren“. Statt der unverwechselbaren Mischungen von Künstler/innen, Arbeiterklasseangehörigen und Migrant/innen seien immer mehr Viertel von einer  Monotonie der Gentrifier, Cocktailbars und Starbucks-Läden geprägt: „In the early years of twenty-first century, New York City lost its soul“. Dabei bedauert sie nicht so sehr die Tatsache der Veränderungen selbst, sondern vielmehr das beschleunigte Verschwinden der mit den Orten verwachsenen Einrichtungen und Bewohner/innen. 

Sharon Zukin’s New York ist ein umkämpfter Raum und auch die Rezeptionen von Veränderungen erfolgen in großer Unterschiedlichkeit. Während einige die Klagen über das Verschwinden gewachsener Strukturen als unverhohlene Nostalgie zurückweisen und auf die Normalität eines immerwährenden Wandels in den Städten verweisen, sehen andere darin den Verlust von Authentizität und der Seele der Stadt. Sharon Zukin zählt sich ganz klar zur zweiten Gruppe und betont, ihre Betroffenheit sei keine Nostalgie. Weder vermisst sie die Drogendealer und die heruntergekommenen Wohnungen, noch die beschmierten U-Bahn-Waggons oder den schlechten Kaffee der Vergangenheit – was sie vermisst, ist „das Gefühl einer Nachbarschaft deren Diversität greifbar war in den Gerüchen und Geräuschen der ethnischen Imbisse, experimentellen Kunstgalerien und Ausstellungen, in den Gesichter und Stimmen der Männer und Frauen, die von überall her kamen, um einen einzigartigen Charakter der Nachbarschaft zu schaffen“.

Es gibt sie noch diese Viertel – in New York ebenso wie in Berlin. Aber der Trend weist auf eine, durch die Stadterneuerung ausgelöste, Homogenisierung, bei der die Nachbarschaftsidentitäten in eine Marke verwandelt werden und die Stadtteile so ihre Seele verlieren.

 

„displace the poor, latte by latte“

 

Sharon Zukin stellt uns zwei Gesichter von Nachbarschaftsidentitäten vor, die uns helfen können, auch die aktuelle Debatte in Prenzlauer Berg einzuordnen: eine historische gewachsene, ursprüngliche Authentizität und eine aus der ständigen Neuerfindung des Raumes erwachsene neue Authentizität. In unserem Fall also vielleicht die ‚Erinnerung an früher‘ und der ‚Milchschaum‘.

Diese unterschiedlichen Authentizitätskonstruktionen sind – mit Zukin gesprochen – keinesfalls als harmlose Perspektivdifferenz anzusehen, sondern können zum Ausdruck eines Machtkampfes werden. Es geht um nichts weniger, als die kulturelle Hegemonie im Stadtteil. Sharon Zukin bezeichnet die Authentizität als eine „fiktive Qualität von Nachbarschaften“, die aber zentrale Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung von Stadträumen habe, unser raumbezogenes Alltagshandeln präge und damit die Produktion des Raumes selbst determiniere. Klingt kompliziert, ist aber relativ einfach: Wenn wir uns nur immer wieder einreden, Prenzlauer Berg sei kinderfreundlich, kreativ oder besonders hipp und uns dann den eigenen Erwartungen entsprechend verhalten, wird die Vorstellung vom Stadtteil zur materiellen Gewalt und Prenzlauer Berg genau so, wie wir ihn uns zuvor wünschten. Im Verbund mit ökonomischen und politischen Ressourcen wird Authentizität dabei zu einem Instrument der Kontrolle nicht nur der äußeren Erscheinung, sondern der Nutzung des realen städtischen Raumes. „Jede Gruppe, die auf einer eigenen Authentizitätsvorstellung gegenüber anderen beharrt, kann eine moralische Überlegenheit beanspruchen. Aber Gruppen, die einem ganzen Stadtraum ihren eigenen Geschmack (…) auferlegen, erheben einen Anspruch auf diesen Raum und verdrängen damit Langzeitbewohner/innen.“

Die ursprüngliche Authentizität eines Viertels ist dabei keineswegs an die Gruppen gebunden, die am längsten im Gebiet wohnen, sondern wird von Zukin als ein moralisches Recht auf Stadt verstanden, es den Bewohner/innen zu ermöglichen, an ihrem Wohnort Wurzeln zu schlagen. Es ist das Recht einen Raum zu bewohnen und zu gestalten und nicht nur als ein Erlebnis zu konsumieren. Authentizität ist in diesem Sinne eine täglich erfüllte Erwartung, dass die Nachbar/innen und die Gebäude und Geschäfte die mich heute umgeben, auch morgen noch hier sind. Städte – so Zukin – verlieren ihre Seele, wenn diese Kontinuität gebrochen wird. 

Genau diesen Verlust haben in den letzten zwanzig Jahren tausende Bewohner/innen in den Altbauquartieren Ostberlins erlebt. Einige konnten sich in die neu entstandene Authentizität von Prenzlauer Berg einbringen, andere haben ihre Erinnerungen in den Beschreibungen des umstrittenen GEO-Artikels wiedergefunden. Und es mutet etwas merkwürdig an, dass ausgerechnet diejenigen, die mit ihren Lebensstilen und Konsumorientierungen den Alltag und die Gewerbeangebote im Viertel längst dominieren, der Erinnerungsarbeit und Verlustbewältigung räumlich, sozial und kommunikativ marginalisierter Altbewohner/innen die Legitimität abzusprechen versuchen.

Mit dem Schlagwort einer hybrid city bündelt Sharon Zukin Utopien von einer durchmischten Stadt, in der bestehende und sich neu herausbildende Authentizitätserfahrungen nicht nur respektiert, sondern als soziale und kulturelle Diversität im Raum real gelebt werden. Dieser Zug scheint in Prenzlauer Berg weitgehend abgefahren – es mangelt nicht nur an Respekt, auch die (alte) Seele scheint verloren. Prenzlauer Berg zwanzig Jahre nach der Wende: die einen haben den Milchschaum vorm Mund, den anderen bleibt die Wut im Bauch.

 

Zum Weiterlesen:

Zukin, Sharon 2010: Naked City. The Death and Life of Authentic Urban Places. Oxford/New York: Oxford University Press

 

Autor: Andrej Holm ist promovierter Sozialwissenschaftler und forscht als Stadtsoziolge seit vielen Jahren zu Themen der Stadterneuerung und Wohnungspolitik. Seit Beginn der 1990er Jahre ist er in Mieterorganisationen und Stadtteilinitiativen aktiv. In seinemGentrificationblog schreibt er regelmäßig über Stadtteilaufwertungen und die damit verbundenen Konflikte.

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