Kiez ohne Schreibwaren von Linde

von Gastautor 23. April 2015

Die Greifswalder Straße ist um einen alteingesessenen Laden ärmer. Bei Frau Linde gab es alles rund ums Papier und noch viel mehr. Unsere Gastautorin Kim Kawa schildert, was sie vermissen wird.

Bürotechnik Linde war eine Institution für Eingeweihte. Für Alteingesessene und solche, die lange genug gesucht hatten. Zwischen Postdienstleister und Versicherungsgeschäft war dieser Laden in der Greifswalder Straße 202 leicht zu übersehen. „Ach“, sagt Regine Linde, und stützt die Hand auf den Besen, mit dem sie an diesem sonnigen Frühlingsmorgen den fast leeren Laden ausfegt, „wenn wir hier noch groß Werbung gemacht hätten, wär´s doch gar nicht zu schaffen gewesen.“ Denn Eingeweihte gab es genug.

Wenn zu Schuljahresbeginn die Grundschullehrinnen der umliegenden Schulen ihre Materiallisten unter Schüler und Eltern gebracht hatten, konnte man in dem 120 qm großen und bis in die letzten Quadratzentimeter eng bestückten Schreibwarenladen kaum mehr einen Fuß auf den Boden bekommen. Die Stammkundschaft wusste, dass hier jemand hinterm Ladentresen stand, der einem nicht nur die „trockenwischbaren Folienliner mit blockierter Spitze“ in die Handgreiflichkeit eines Schreibgeräts übersetzen konnte, sondern dieses auch gleich aus dem richtigen Regalfach heraussuchte.

 

Sie stieg über Kartons, rückte Stapel zur Seite, fingerte an Plastikschubern vorbei

 

Bis in den letzten Winkel hinein kannte Regine Linde sich in ihrem Laden aus. Auch angesichts der oft in langer Schlange anstehenden Kundschaft behielt sie die Ruhe, stieg über Kartons, rückte Stapel zur Seite, fingerte geschickt an Plastikschubern vorbei, um jeden Sonderwunsch zu erfüllen. Sonderwunsch? Ein merkwürdiges Wort angesichts des Warenangebots, in dem die Kategorie des Besonderen kaum mehr sinnvoll war – so vielseitig, so wenig ökonomisch, so verschwenderisch breit, so zauberhaft unprätentiös war dieser Schreibwarenladen bestückt. 

Ein Hausaufgabenheft? Kein Problem. In den zwei Dutzend Varianten hatte  man immer eines finden können, das hinsichtlich der Einteilungsgewohnheiten, Design-Vorlieben und haptischen Ansprüche des eigensinnigen Nachwuchses genau das richtige war. Die Silhouettenschere für Linkshänder hing so schlicht neben dem Bastelscherenset für Normhände, die unlaminierten Beschriftungsbänder für die Etikettiermaschine so unaufgeregt neben den Allround-Druckerpatronen, dass hier einfach alles, aber auch wirklich alles da war, was der schreibende, der bastelnde, der ordnende Mensch in seiner eigensinnigen Alltäglichkeit eben so braucht.

 

Ein Mal im Jahr musste der Stromableser das riesige Kartenregal abrücken

 

Nicht zuletzt das Grußkartenregal: So außergewöhnlich konnte ein Anlass gar nicht sein, dass er hier nicht zu finden gewesen wäre. Wie viele Anlässe zu grüßen es neben (runden) Geburtstagen, Geburt und Tod, Konfirmation und Jugendweihe, neuer Wohnung und neuem Auto überhaupt noch geben kann im Leben, das konnte wohl erst derjenige wirklich ermessen, der einmal vor diesem Regal gestanden hat. Übrigens: einmal im Jahr musste der Stromableser mit anfassen und die Grußkarten abrücken. Dahinter: der Elektrozähler. Platz für Aussparung gab´s hier nicht.

Die Breite des Warensortiments war enorm hinter diesem höchst bescheidenen, ja in seiner Bescheidenheit beinahe irreführenden Schild „Bürotechnik Linde“, das seit dem Jahr 2000 in der Greifswalder Straße 202 zu finden war. Verkäuferin hatte sie ja eigentlich nie werden wollen, sagt Regine Linde und lässt ihren Blick über die leeren Ständer gleiten. Und hat doch nahezu 15 Jahre lang Schreibwaren verkauft. Montag bis Samstag. Tagein, tagaus. Von früh bis spät. Aber war sie eine Verkäuferin? Jedenfalls hat sie unermüdlich einen Laden in Gang gehalten. Allerdings stand da mit Regine Linde eine Frau im Laden, die nicht nur eine bankkaufmännische Lehre absolviert hatte, sondern außerdem gelernt hatte,  Schreibmaschinen zu reparieren.

Erst die mechanische M16 des Optima Büromaschinenwerks in Erfurt, dann auch die elektrischen, die M100, in den späten Sechzigern, und die M 200 in den frühen Siebzigern. Dann hat sie sich im Fernstudium  zur „Betriebswirtin des Handwerks“ ausbilden lassen – nebenher. Will heißen, neben der Arbeit im Laden, und zwei Töchter waren ja auch noch zu versorgen. In „Bürotechnik Linde“ hatte sich schon ganz schön viel unverzagte Biographie angesammelt, und ziemlich viel Sachverstand.

 

„Jetzt broochen Se aber noch det Buntpapier wa?“

 

Klar, schräg gegenüber ließen sich Papier und Stifte auch in einer wohlbekannten Schreibwaren-Kette einkaufen. Teurer. Nicht besser. Und wenn man bereit war, mit dem Wechselgeld unausweichlich auch die Frage entgegenzunehmen, ob man nicht noch das Kopierpapier oder die neuen Osterservietten, gerade im Angebot, mitnehmen möchte. Dieses Marketing der grauen Vorzeit des „Aktiven Verkaufens“. Manche wäre nicht nur auf die andere Straßenseite rüber zu Linde, sondern gleich ans andere Ende der Stadt gelaufen, um dem zu entgehen.

Nicht, dass Frau Linde nicht auch einmal auf etwas hingewiesen hätte: „Jetzt broochen Se aber noch det Buntpapier wa?“ Aber da war eben das Buntpapier nicht gerade im Angebot, sondern das Buntpapier hatte man vergessen, weil man versucht hatte, auswendig einzukaufen, und dann hätte man das Buntpapier vergessen und das Kind hätte geheult und gemeint, ohne Buntpapier nicht in die Schule gehen zu können. Frau Linde hat dies zu verhindern gewusst, weil sie eben alle Listen einfach auswendig kannte und innerlich mit abarbeitete.

 

Vielleicht braucht es auch im Papierladen eine Kaffee-Ecke – und Origamikurse

 

Was sollen wir jetzt tun mit unseren Materialzetteln? Wo sollen wir die trocken abwischbaren Faserstifte zusammensuchen? Die Vorräte, mit denen sich die verzweifelte Kundschaft im Räumungsverkauf von Bürotechnik Linde fürs erste eingedeckt hat, werden nicht ewig reichen.

Man wünscht sich einen richtigen, einen echten, einen grundsoliden Papierladen im Kiez. Einen Papierladen mit allem Zipp und Zapp: mit Schreibfedern, Tintenfässchen, Zirkeln für Kinderhände, und Briefumschlägen in allen Abmessungen. Und ein bisschen Aufbruchstimmung müsste wohl auch dabei sein. Denn eine Goldgrube war Bürotechnik Linde schon länger nicht mehr. Regine Linde lächelt. Naja, letztlich war sie in den letzten Jahren froh, wenn sie keinen Verlust einfuhr. Hm.

Vielleicht braucht es jetzt also auch im Papierladen eine Kaffee-Ecke? Ließe sich ja vielleicht mit einem Origamikursen verbinden. Washi, das weiche handgeschöpfte Papier kann man inzwischen ganz gut aus Japan importieren und es würde sich mit dem Lifestyle der Ansässigen vermutlich gut verbinden. Oder der Kaffee würde in einer kleinen Briefschreibeecke serviert, zusammen mit einer reichen Auswahl des schönsten Papiers für schönste Briefe.  Sonderbriefmarken gibt´s auch gleich dazu in diesem wunderbaren neuen Papierladen mit Lizenz zur Postannahme. Ich glaube, die zukünftige Stammkundschaft steht schon bereit. Habt Mut, Ihr Existenzgründer!

Frau Linde hat lange durchgehalten. Anfang 70 ist sie nun; nicht ganz gesund. Und hat manches Päckchen zu tragen. Aber ihren Ur-Berliner Humor, ihr freundliches Lachen und dieses feinsinnige Strahlen im Gesicht, wenn sie sich freut, das hat sie noch immer. Hat einen Laden aufgebaut und wieder abgebaut. Einiges ist dabei auf der Strecke geblieben. Eines jedoch nicht: ihre Lernbereitschaft. Was sie vorhat, wenn die Schlüssel abgegeben sind? Einen Computerkurs, dazu hätte sie jetzt schon Lust. Mit den Enkelkinder emailen. Das Schild ist abmontiert, aber irgendwie scheint es mit Bürotechnik bei Frau Linde doch noch weiterzugehen.

 

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