Neue Heimat Bötzowkiez

von Susanne Grautmann 21. März 2016

Constanze Schubert hat ihre Mutter zu sich nach Prenzlauer Berg geholt. Vor zwei Jahren war das. Seitdem erlebt sie eine logistische und emotionale Achterbahnfahrt.

Von Tür zu Tür waren es genau 582 Kilometer. Solange ihr Vater noch lebte, hielt Constanze Schubert* das für eine ideale Distanz. Sie in Prenzlauer Berg, ihre Eltern in Bonn. Doch nach dem Tod des Vaters zog sich ihre Mutter immer mehr zurück, fing an, ihre Einsamkeit mit Rotwein zu bekämpfen. 582 Kilometer können unendlich weit sein, wenn jemand, den man liebt, nicht ans Telefon geht. Tuut, tuut. Manchmal tagelang. Tuut. Constanze Schubert und ihre Schwester Anna, die in Kreuzberg lebt, machte das fast wahnsinnig. 

Als es dann wirklich ums Ganze ging, klingelte ihr eigenes Telefon. Ihre Mutter hatte versucht, sich das Leben zu nehmen. 64 Jahre alt war sie zu diesem Zeitpunkt. Danach ging alles Knall auf Fall. Schubert und ihre jüngere Schwester holten die Mutter nach Berlin. Deren Berliner Zeit begann in einem Krankenhaus in Weißensee. 

 

Kein Weg zurück 

 

Dass von dort aus kein Weg mehr nach Bonn zurückführen würde, war den Schwestern klar. Der Suizidversuch war wohl auch ein Hilferuf. Nur hatten sie überhaupt keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nahm Schubert ihre Mutter zunächst in ihre Wohnung auf. Die 38-Jährige lebt mit ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern in einer Altbauwohnung im Bötzowkiez. 4. Stock, kein Aufzug. 

Dass das keine langfristige Lösung sein könnte, war von vorneherein klar. Ihre Mutter hatte zu der Zeit schon Beschwerden in den Gelenken. Aber Schubert macht sich nichts vor. Sie weiß, dass das Zusammenleben auf die Dauer auch sie überfordert hätte, organisatorisch, körperlich, aber vor allem psychisch. 

 

Früher war ihre Mutter ein anderer Mensch   

 

Die Mutter leidet an einer schweren Depression, die ihre Persönlichkeit extrem verändert hat. Sie zeigt nur noch wenige Emotionen. Schubert fällt es oft nicht leicht, in ihr noch die geliebte Mama aus Kindheitstagen zu erkennen. Sie ist unendlich froh, dass sie ihre Schwester Anna hat, die sich noch genauso wie sie daran erinnert, wie ihre Mutter früher war: liebevoll, humorvoll, immer für ihre Töchter da. Nahezu perfekt war sie.  

Jetzt machen sich die Schwestern also auf die Suche nach einer bezahlbaren kleinen Wohnung für die Mutter. Sechs Wochen später werden sie in Prenzlauer Berg fündig. Die Wohnung liegt im Hochparterre, statt 96 muss ihre Mutter fortan nur noch drei Stufen überwinden, und mit ihrem Rollator könnte sie Constanzes Familie sogar noch zu Fuß besuchen. Ein Glückstreffer. 

 

Alle Hebel in Bewegung  

 

Die Schwestern richten die Wohnung ein, organisieren einen Medikamentenservice und bringen noch eine Notfallklingel an. Zur gleichen Zeit entrümpeln, renovieren und vermieten sie die Wohnung in Bonn. Ihre Jobs und Familien haben sie natürlich auch noch. Als alles geschafft ist, sind sie stolz und freuen sich wie Bolle, wie Schubert sagt. In Zukunft könnte ihre Mutter am Familienleben teilnehmen, vielleicht einen Nachmittag in der Woche die Enkel nehmen. 

Wenn sie Freude oder Dankbarkeit erwartet hatten, und natürlich hatten sie das, diese Hoffnung wird enttäuscht. Ihre Mutter zeigt kaum eine Gefühlsregung, als sie in die Wohnung kommt. Sie zieht ein, ohne zu würdigen, was ihre Töchter auf die Beine gestellt haben. Auch eine emotionale Nähe zu ihren Enkeln aufzubauen, fällt ihr nicht leicht. Weil sie sich den Kindern körperlich nicht mehr gewachsen fühlt, lassen sich die gemeinsamen Nachmittage mit den Enkeln nicht so umsetzen wie erhofft.  

 

 Die Herbstlaube in der Dunckerstraße 

 

Dafür schiebt sie ihren Rollator jetzt regelmäßig in die Herbstlaube in der Dunckerstraße. Der Seniorentreff wird ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens, sie lernt dort andere Senioren kennen und fühlt sich zugehörig. Doch als ihre Beine mit der Zeit immer mehr Probleme machen, schafft sie den Weg vom Winskiez bis in den Helmholtzkiez nicht mehr. Sie erleidet immer häufiger Stürze, kann schließlich auch die drei Stufen bis in ihre Wohnung kaum noch bewältigen. Eine neue Lösung muss her. 

 

Wie im Dschungel 

 

Nur welche? Alters-WG, Betreutes Wohnen, Pflegeheim? Schubert und ihre Schwester versuchen, sich einen Überblick zu verschaffen, und fühlen sich dabei wie im Dschungel. Es gibt zig Betreuungsvarianten, noch mehr Einrichtungen und unendlich viele verschiedene Tarife. Sie informieren sich bei drei verschiedenen Pflegestützpunkten, schauen sich eine Alters-WG an, besuchen eine betreute Wohneinrichtung. Müssen feststellen, dass es für den Typ „Betreutes Wohnen“ anscheinend überhaupt keine festen Kriterien gibt. In der Einrichtung, die Schubert besucht, werden den Bewohnern nicht mal Mahlzeiten angeboten. Die Betreiber meinen, in der Straße gebe es doch jede Menge Restaurants und Cafés. Dass das eine Lösung für ihre Mutter wäre, glaubt Schubert aber nicht. 

Es folgt ein Besuchsmarathon durch verschiedene Pflegeheime. Viele Häuser bieten den Senioren Probewohnen an, gegen Bezahlung natürlich. Schuberts Mutter macht einen ersten Versuch, fühlt sich aber nicht wohl und bricht nach zwei Wochen ab. Schubert kann das gut nachempfinden und ist letztlich froh, dass ihre Mutter dort nicht bleiben wollte. Das Wohnheim lag relativ weit entfernt in einem anderen Bezirk, trist fand sie es da und stickig. 

 

Nur einmal in ihren Kopf gucken

 

Seit drei Wochen ist ihre Mutter nun in einem Pflegeheim am Friedrichshain, es liegt nur fünf Minuten von Schuberts Wohnung entfernt und macht einen guten ersten Eindruck. Die Schwestern haben die Bilder ihrer Mutter in dem Zimmer aufgehängt, damit sie sich ein bisschen mehr zuhause fühlt. Ihre Biedermeier-Möbel aus Bonner Zeiten bleiben aber erst mal eingelagert. Die Schwestern wollen erst sicher sein, dass das hier von Dauer ist, bevor sie noch einmal anfangen, Möbel zu rücken. 

Schubert kann nicht wirklich einschätzen, wie es ihrer Mutter jetzt geht. Auch wenn die Mutter sagt, sie fühle sich ganz wohl, was heißt das schon? Sie sagt ja auch: „Wenn mir jetzt ein Ziegelstein auf den Kopf fiele, wäre es auch nicht so schlimm.“ Es wäre Schuberts größter Wunsch, ihrer Mutter einmal in den Kopf gucken zu können. Spüren zu können, was sie empfindet. Schubert hat das Gefühl, dass ihre Mutter mittlerweile zu fast allem ja und Amen sagt. Wahrscheinlich würde sie sogar einem Umzug zurück nach Bonn zustimmen, wenn Schubert das vorschlagen würde. 

 

Wann kommt Ihr? 

 

Die Verantwortung liegt jetzt voll und ganz bei ihr und ihrer Schwester. Das Verhältnis zwischen Mutter und Töchtern hat sich umgedreht. Schubert ist wahnsinnig froh, dass sie wenigstens nicht ganz alleine ist mit all den Entscheidungen. Auch wenn sie jetzt natürlich häufiger mit ihrer Schwester aneinander gerät als früher. Wer besucht die Mutter an diesem Wochenende, am nächsten, am übernächsten? Ihre Schwester sagt manchmal kurzfristig ab, sie schafft es nicht immer, den Besuch bei der Mutter in ihrem Wochenende unterzubringen. Kreuzberg ist eben ein Stückchen weiter weg. 

Schubert bekommt dann ein schlechtes Gewissen, sie könnte ja mal kurz rübergehen, ihre Mutter sitzt nur wenige Straßen weiter in ihrem Zimmer. In solchen Momenten ärgert sie sich darüber, dass ihre Schwester eine Lücke aufreißt, mit der sie sich auseinandersetzen muss. „Musst Du nicht“, sagt ihre Schwester, „das ist nicht deine Verantwortung“. Tut sie aber. Die Mutter fragt doch immer: „Wann kommt ihr am Wochenende?“

Sowieso. Das schlechte Gewissen. Es ist ihr Begleiter geworden. Es meldet sich jedes Mal, wenn sie ihre Mutter zurückbringt ins Heim. Dann blitzt ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie sie doch jetzt gut mit zu sich nach Hause nehmen könnte. Daran ändert es nichts, dass sie den Weg, den sie gewählt haben, richtig findet. Sie ist froh, dass sie mit ihrer Mutter schon über das Alter gesprochen hat, als die noch fit war. Auf keinen Fall wolle sie ihren Töchtern im Alter zur Last fallen, hat sie damals gesagt. 

*Alle Namen von der Redaktion geändert.  

 

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Über unseren Schwerpunkt „Eltern in Prenzlauer Berg“

 

Wir wollten wissen, wie das so klappt, wenn Eltern und Kinder nach oft jahrzehntelanger räumlicher Trennung auf einmal wieder eng beieinander wohnen. Neben diesem Text haben wir noch folgende Beiträge: 

Welche Angebote gibt es hier überhaupt für die ältere Generation? (Schöner Podcast, ca. 3 Minuten, mit einer Mutter, die zu ihrer Tochter nach Prenzlauer Berg gezogen ist)

Und welche Wege kann man beschreiten, wenn Angehörige pflegebedürftig werden? (Unsere Service-Stück zum Thema)

 

 

 

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