Am Ufer des Chöwsgöl Nuur

von philipp 4. März 2014

 

Teil 2/2

 

Damit beginnt die große Reise, und genau so abenteuerlich geht sie von da an weiter und immer weiter: Erst nach Moskau, dann von Irkutsk aus mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Ulan Bator, wo Jens und Marie den mongolischen Schriftsteller Galsan Tschinag und das Naadam-Fest besuchen. Mit einer Doppeldeckermaschine lassen sie sich weiter gen Norden fliegen, ein beflissener Natschalnik bringt sie bis ans Ufer des Chöwsgöl Nuur. Hier, am tiefblauen „Mongolischen Meer“, bleiben sie ein Weilchen, bevor es sie nordwestlich zieht bis Chowd, dann weiter per Anhalter durch die Wüste Gobi.

Unterwegs machen sie eine Menge Fotos, die jetzt das Buch eindrucksvoll illustrieren: Eine Familie in ihrer Jurte, ein erschütternd winziges blaues Zelt vor einer überwältigenden Seenlandschaft. Am liebsten campieren Jens und Marie in der freien Natur, wo keine Ausweiskontrollen drohen, denn mit ihrer gefälschten Einladung wären sie in der Mongolei schnell aufgeflogen. Werden sie doch einmal kontrolliert, zeigen sie statt ihrer echten Pässe einfach ihre Sozialversicherungs- oder Studentenausweise vor. Falls diese ihnen weggenommen werden, brauchen sie die Reise nicht abzubrechen.

Kontrolleure wie lästige Mücken

Wensierski hat für sein Buch die Stasiunterlagen ausgewertet, aber auch Briefe, Tagebücher, Fotos und Notizen, die Jens und Marie in alten Kisten fanden. Er sprach mit Galsan Tschinag, der sich noch gut an Jens und Marie erinnerte. Vor allem aber hat er die beiden besucht und stundenlang mit ihnen geredet – Jens in seinem Haus im Spreewald, Marie im südlichen Brandenburg, wo sie heute Schafe hält und eine Filzwerkstatt betreibt. Bevor Wensierski mit seinem Buchprojekt ankam, hatten sie sich zwanzig Jahre nicht gesehen. Er erzählt ihre Geschichte ganz unaufgeregt, ohne „action“, aber voller Spannung; ohne Stasi-Verfolgungsjagden, ohne Angstschweißgeplätscher an den Grenzübergängen, ohne Heroisierung der beiden Reisenden. Kontrolleure werden abgeschüttelt wie lästige Mücken, mit weichen Knien, aber leichten Herzens.

Werden Jens und Marie es also wirklich bis China schaffen? In Ost-Berlin bekam dafür kein DDR-Bürger ein Visum, in der Mongolei, so hoffen die beiden, vielleicht schon. Der zuständige Beamte darf nur nicht auf die Idee kommen, die Prenzlauer Berger Behörden anzurufen und nachzufragen, was es mit den beiden reiselustigen Studenten auf sich hat.

 

Einfache Worte für eine große Sache

Die das ganze Buch durchziehende Frage, ob sich am Ende tatsächlich beide für die gemeinsame Republikflucht entscheiden, in der Westdeutschen Botschaft in Peking Asyl beantragen und ausreisen, bleibt spannend bis zur letzten Seite. Denn je greifbarer diese Ausreise wird, desto dramatischer spitzt sich ein emotionaler Konflikt zu: Während Jens seit seiner Exmatrikulation nichts mehr in der DDR hält, könnte Marie bei ihrer Rückkehr einfach weiter studieren. Sie sorgt sich auch um ihre Familie, ihr Vater würde wohl seinen Job bei der DEFA in Babelsberg verlieren, falls sie von der Reise nicht zurück käme. Steht am Ende also die Trennung?

Zum Glück ist Peter Wensierski kein bisschen schnulzenaffin, er erspart dem Leser tränenreiche Liebesschwüre und das retardierende Breittreten des Entscheidungsprozesses. Für eine große Sache findet er einfache Worte. Ihm geht es nicht darum, die „Verbotene Reise“ als die eine, weltbewegende und alles verändernde Lebensentscheidung zweier charismatischer Ausnahmehelden darzustellen. Ihn interessiert ihre alltägliche Kühnheit, ihr natürliches Selbstbewusstsein, das sie resistent macht gegen staatliche Einschüchterung und Bevormundung. „Jens und Marie hatten einfach keine Lust, sich von einer Riege älterer Herren vorschreiben zu lassen, wie sie leben sollen,“ sagt er. Sie gehen unbeirrt ihren Weg, auch wenn das für sie bedeuten kann, einen geliebten Menschen zu verlieren. Für diesen Mut ist Wensierskis Buch die denkbar schönste Würdigung.

Buchinfo: Peter Wensierski, Die verbotene Reise. Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht. Spiegel/DVA München, 256 Seiten, 19,99 Euro.

Termininfo: Am Donnerstag, den 06. März 2014, stellt Peter Wensierski das Buch in der Bibliothek am Wasserturm vor, Prenzlauer Allee 227-228. Beginn ist um 20 Uhr, der Eintritt frei, weitere Infos hier. Jens und Marie werden auch da sein, und es werden ausgewählte Bilder von der Reise gezeigt.

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Teil 1: „Per Anhalter durch die Wüste Gobi“

 

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