Zu wenige Schulplätze an der Sonne

von Romanus Otte 6. Juli 2018

Der Schlamassel um die fehlenden Schulplätze im Kiez steht für eine tiefere Misere: Berlin versagt vor den Herausforderungen und Chancen einer wachsenden Stadt.


Endlich Ferien. Für mehr als 2000 Kinder im Bezirk Pankow endete diese Woche mit dem Schuljahr auch ihre Grundschulzeit. Eigentlich ein doppelter Grund zur Freude: Erst sechs Wochen gar keine Schule und dann das neue Abenteuer Oberschule oder Gymnasium. Warum aber gibt es dann derzeit so viele Tränen bei Sechstklässlern? Warum gibt es so viel Verunsicherung und Ärger bei Eltern? Warum gibt es so viel Stress für Schulen und Ämter?
Die erste Antwort ist simpel: Weil es in Pankow, dort, wo viele Kinder leben, zu wenige Schulplätze gibt. Die zweite Antwort führt tiefer: Weil es Berlin partout nicht gelingen will, seine eigene Attraktivität als Geschenk zu begreifen und die Herausforderungen einer wachsenden Stadt anzunehmen.

Bevor wir zur Sache kommen, eine Einschränkung: Ich schreibe auch als Betroffener. Unser Kind hat keinen Platz an einer gewünschten Schule bekommen, dafür einen Platz an einer Schule, die weder Kind noch Eltern wollten. Als die Prenzlauer Berg Nachrichten jüngst über die Schulplatzvergabe als Erfolg berichteten  kommentierte ich das kritisch. Die Redaktion lud mich daraufhin ein, diesen Artikel zu schreiben.

Zur Sache.

Mitte Juni zog Pankows Schulstadtrat Torsten Kühne (CDU) selbstzufrieden Bilanz: 92 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus Pankow hätten einen Platz an einer ihrer drei Wunschschulen bekommen. Weitere sieben Prozent hätten zwar nur einen anderen Schulplatz, immerhin aber in Pankow bekommen. Macht für 99 Prozent der Sechstklässler aus Pankow einen Platz in Pankow. Nur 34 Schüler müssten an eine Schule außerhalb des Bezirks, etwa in den Grunewald. „Geschafft“, lobten die Prenzlauer Berg Nachrichten.

 

Vergabeverfahren für Schulplätze als taktisches Strategie-Spiel

Wirklich geschafft? Dieselben Zahlen bergen drei andere Wahrheiten: 1. Jeder zwölfte Sechstklässler in Pankow bekommt keinen Platz an einer gewählten Schule. 2. Dabei waren schon die gewählten Zweit- und Dritt-Schulen oft nicht die gewünschten Schulen, weil das Vergabeverfahren Eltern in eine taktische Wahl oder besser Wette zwingt. 3. Ein Platz an einer anderen Schule in Pankow mag die Bezirksbilanz polieren. Für Kinder ist der Pankower Stadtteil Karow aber oft nicht näher als der Grunewald. Fahrtzeit je nach Wohnort eine knappe Stunde – morgens und nachmittags. Für Kinder und Familien ist nicht der Verwaltungsbezirk wichtig, sondern die Schule und meist der Schulweg dorthin.
Der wahre Schlamassel entfaltet sich ohnehin hinter solchen Zahlenspielen.

Alles beginnt damit, dass es in Pankow seit Jahren absehbar zu wenige Schulplätze gibt, besonders in Stadtteilen mit vielen Kindern. Hinzu kommt, dass Schulen sich ihre Schüler aussuchen dürfen. Diese Auswahl muss objektiven Kriterien folgen, denn alle weicheren Verfahren wie Aufnahmegespräche oder -tests wurden von Eltern über die Jahre weggeklagt. Übrig geblieben sind als gerichtsfest: die Schulnote und das Los (ergänzt durch einen Vorrang für Geschwisterkinder und Regelungen für Härtefälle.)

 

Es ist falsch, wenn Kindern weinend aus der Schule kommen. Wegen einer 2 in Mathe

Schulen und Schulämtern ist gar kein Vorwurf zu machen. Sie versuchen, aus dem Mangel das Beste zu machen. Alle verhalten sich rational und haben doch ein Pankower Monster geschaffen: Einen allgemeinen Numerus Clausus für Grundschulkinder. Für einige Schulen liegt er bei 1,3 (einschließlich Sport, Musik, Kunst).

Es ist in Ordnung, von Grundschülern Leistung zu fordern. Es ist in Ordnung, Leistung zu benoten. Es ist in Ordnung, Oberschulen Anreize zu geben, starke Schüler anzuziehen. In Pankow aber ist das System aus dem Ruder gelaufen. Bei aller Leistungsbereitschaft läuft etwas grundfalsch, wenn Grundschüler bedrückt von der Schule kommen und den Tränen nahe eingestehen, dass sie in der Mathe-Arbeit (oder in Musik) nur eine 2 haben.

Der Mangel führt auch die angebliche Schulwahl ad absurdum. Das System mit Erst-, Zweit- und Drittwunsch zwingt alle Beteiligten in einen Intensivkurs in Spieltheorie. Wer ehrlich seine drei Lieblingsschulen in der favorisierten Reihenfolge angibt, ist der Dumme. Wenn es für fast jede Schule mehr Erstwünsche als Plätze gibt, hat allenfalls der Erstwunsch eine Chance. Die Zweit-Wahl ist schon kein Wunsch mehr, sondern eine taktische Wette auf das kleinere Übel einer vermeintlich schwächer nachgefragten Schule. Der Drittwunsch ist irrelevant.

Das Verfahren ist auch deshalb so schmerzlich, weil es in Pankow und den angrenzenden Bezirken ja viele sehr gute Gymnasien und Oberschulen gibt. Gäbe es die Option, fünf oder sechs Schulen zu benennen, um sicher eine beliebige von ihnen zu bekommen, viele Eltern würden diese Möglichkeit nutzen. Stattdessen werden alle zu Hop-oder-Top gezwungen.
Die gesamte Abwicklung des Verfahrens setzt alle Beteiligten unnötig unter maximalen Stress. Statt Informationen digital mit geschütztem Zugang bereitzustellen, warten Familien zuerst auf Bescheide per Briefpost. Jede noch so simple Nachfrage führt dann zu Wartezeiten vor Schulsekretariaten, in Amtsfluren oder in Telefonschleifen. Ein Lichtblick ist die bewundernswerte Freundlichkeit und beharrliche Hilfsbereitschaft der Schulsekretärinnen, Schulleitungen und der Mitarbeiterinnen der Schulämter.

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Dass überhaupt Schulplätze fehlen sollte allen Verantwortlichen die Schamesröte ins Gesicht treiben

Vieles wäre zu verbessern, am Ende aber gibt es nur einen Ausweg aus der Misere: Berlin muss mehr Schulplätze schaffen – und zwar dort, wo Familien wohnen. Dass überhaupt Schulplätze fehlen sollte allen Verantwortlichen die Schamesröte ins Gesicht treiben. Kinder kommen ja nicht im Kita-, nicht im Grundschul- und nicht im Oberschulalter auf die Welt. Dass in Pankow noch lange bestehende Schulen geschlossen wurden, ist bitter.

Noch bitterer ist es, dass so lange schon die Kraft fehlt, Schulen zu bauen oder bestehende Gebäude zu aktivieren. Die frische Berliner Schulbauoffensive lässt immerhin hoffen, dass der Senat die Brisanz erkannt hat. Schon aber mahlen die Berliner Mühlsteine: Es geht um Zuständigkeiten, Finanzierungsmodelle, Transparenz, Verwaltungsvorschriften. Hoffnung auf zügige Schulbauten macht das weniger.

Wenn dann einmal eine Schule (wieder)entsteht, wie 2016 das Gymnasium am Europasportpark, müsste sie jubelnd unterstützt werden. Stattdessen wird die Schule mit motiviertem Personal und großem Potenzial allein gelassen. Die Sanierung des alten DDR-Baus wurde bereits so weit verschoben, dass die Pionierklassen bis zum Abitur nichts davon haben werden. Der Kampf um eine angemessene Ausstattung etwa für naturwissenschaftliche Fächer führt in einen Irrgarten aus Zuständigkeiten und Interessen, in dem Geld-Töpfe zwar sichtbar sind aber unerreichbar bleiben. Dabei wäre eine Lösung nicht teuer.

 

Selbstzufriedenheit des Schulstadtrates ist jetzt das neue Berlin

Womit wir bei dem tieferen Berliner Problem wären: Stadt, Bezirke und viele Bürger hadern mit dem geschenkten Schicksal Berlins als attraktive, wachsende Stadt. Jedes Jahr nimmt die Bevölkerung um knapp 50.000 Menschen zu. Was für eine Chance! Berlin zieht an. Berlin hat alle Möglichkeiten und Berlin hat sogar Platz. Berlin zählt heute immer noch deutlich weniger Einwohner als 1920, geschweige denn als vor dem Zweiten Weltkrieg.

Noch früher schrieb Karl Scheffler 1910 in seinem heute noch lesenswerten Essay „Berlin, ein Stadtschicksal“ den berühmten Satz, Berlin sei dazu verdammt, „immerfort zu werden und niemals zu sein“. Dieses Werden, diese Rastlosigkeit und Beweglichkeit, waren einmal Stärken Berlins und der Berliner.

Sie scheinen verschüttet. Berlin hat sich eingerichtet. Die anspruchslose Selbstzufriedenheit des Schulstadtrates ist sehr hier-und-jetzt-berlinerisch. Reicht schon, wird schon, irgendwie und irgendwann. Berlin verändert sich zwar ständig und auch gar nicht langsam. Allein es fehlt die Lust, Veränderung auch als Chance zu umarmen und zu gestalten. Berlin lässt Wandel allenfalls geschehen und scheint davon erschöpft und überfordert.

 

Es trifft unsere Kinder

Erst seit Berlin sich nicht nur wandelt, sondern auch wächst, wird der Mangel spürbarer. Er trifft besonders die Kinder. Es fehlen ja nicht nur Oberschulen, es fehlen Grundschulen und Kitas. Es fehlen Sportplätze und Sporthallen. Es mag ein schönes Bild sein, wenn über 100 Kinder gleichzeitig auf einem Fußballplatz trainieren. Für Berlin aber ist auch das ein Armutszeugnis.

Was für Bildung und Sport gilt, gilt für Wohnungen. Wenn die Bevölkerung wächst, müssen Wohnungen gebaut werden. Gibt es zu wenig Wohnungen, steigen die Preise und beschleunigt sich Verdrängung. Da helfen weder Mietpreisbremse noch Milieuschutzgebiete. Berlin schmollt lieber gegen „Gentrifizierung“ an als wäre dies Schicksal. Wo gebaut werden soll, regt sich Widerstand. Für viele Berliner soll alles bleiben, wie es niemals war. Auf die Spitze getrieben von der radikal-konservative Initiative „100% Tempelhofer Feld“. Bitte nicht berühren. Berlin will zu 100% „sein“ und niemals „werden“.
Regt sich Widerstand, haben Berlins Politiker eine Meisterschaft darin entwickelt, sich entweder schnell auf die Seite des Protestes zu schlagen oder ihn durch maximales Ungeschick anzuheizen, wie bei dem Wohnprojekt Blankenburger Süden. Ergebnis: Gerade hat der Senat das Ziel von 30.000 neuen kommunalen Wohnungen bis zum Jahr 2021 auf 25.000 Wohnungen gesenkt.

Was für Bildung, Sport und Wohnen gilt, gilt für den Verkehr. Lösungen sind gefragt für mehr und sicherere Radwege, zur Aufwertung des öffentlichen Nahverkehrs, für einen flüssigeren Autoverkehr. Die Reihe ließe sich fortsetzen.
Berlin ist eine wunderbare Stadt, Pankow ist ein großartiger Bezirk, der Prenzlauer Berg ist ein einzigartiger Stadtteil. Hier lässt es sich herrlich leben – am besten, solange man nicht auf Stadt, Bezirk oder Politik angewiesen ist.

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