Wohnhaus der Familie Kollwitz, dahinter die Kollwitzstraße mit Straßenbahn. (Bildarchiv Museum Pankow)

„Wegzuziehen stand nie zur Debatte“

von Constanze Nauhaus 14. Juni 2017

Ein halbes Jahrhundert lebte Käthe Kollwitz an der heute nach ihr benannten Straße. Zum 150. Geburtstag der Künstlerin lädt die Galerie Parterre zur Spurensuche – mit Ausstellung und Stadtspaziergängen.

 

Seit zwei Minuten versucht der kleine Junge vergeblich, sich auf den Schoss der bronzenen Käthe Kollwitz zu setzen. Wird nicht klappen, der Winkel ist zu stumpf. Daran haben sich schon Generationen abgearbeitet. Erinnerungen werden wach, unbewusst zuckt der rechte Fuß. Wenn man den nämlich gegen das Kreidestück in Kollwitz‘ Hand presst, dann rutscht man zumindest für eine Fotolänge nicht hinunter. Auch das ist Generationenwissen, wie die abgewetzte, gold glänzende Kreide zeigt. Michael Bienert steht ein paar Meter abseits unter einem Baum, vor der sich heute rar machenden Sonne durch Hut und Blätterdach doppelt geschützt, und betrachtet nachdenklich das bekannte Kollwitz’sche Profil.

 

Michael Bienert führt auf Kollwitz' Spuren durch den Kiez (Constanze Nauhaus)

Michael Bienert führt auf Kollwitz‘ Spuren durch den Kiez (Constanze Nauhaus)

 

„In den 50er Jahren gab es in der DDR ja heftige Formalismus-Diskussionen. Wie modern darf eine Plastik sein?“ Zwar sei das Denkmal von Gustav Seitz stilistisch sehr nah an Kollwitz‘ eigenem Werk, gleichzeitig aber eine eigenständige Figur. Zwar Mutterfigur, trotzdem nicht zu sehr als sozialistische Ikone stilisiert. Die Mappe verdeutlicht ihre Identität als Künstlerin. Seit 20 Jahren bietet Michael Bienert, der seit den Siebziger Jahren in Berlin und seit 20 Jahren in Pankow lebt, literarische Stadtspaziergänge an. Anlässlich des 150. Geburtstages von Käthe Kollwitz am 8. Juli führt der Literaturwissenschaftler und Publizist an drei Terminen im Juli auf den Spuren der Künstlerin durch den Prenzlauer Berg, wo sie über 50 Jahre mit ihrer Familie lebte.

Wie hat Familie Kollwitz hier gelebt?

Bienerts Touren finden im Rahmen der Ausstellung „Käthe Kollwitz und Berlin“ der Galerie Parterre statt. Vom 5. Juli bis zum 24. September zeigt die Galerie rund 70 Arbeiten der Künstlerin – Leihgaben des Käthe Kollwitz Museums in Köln und aus den Grafischen Sammlungen der Stiftung Stadtmuseum, der Berlinischen Galerie und der Kunstsammlung der Akademie der Künste. Herzstück der Ausstellung bildet die Grafikfolge „Weberzyklus“, in der Kollwitz den Weberaufstand künstlerisch verarbeitete und die der damals 31-Jährigen 1898 zum Durchbruch verhalf.

 

Kollwitz 1937 in ihrem Wohnzimmer (Käthe Kollwitz Museum Köln)

Kollwitz 1937 in ihrem Wohnzimmer (Käthe Kollwitz Museum Köln)

 

„Die Beschäftigung mit Käthe Kollwitz ist extrem naheliegend für uns als Galerie. Sie hat hier über 50 Jahre lang gelebt, Platz und Straße heißen nach ihr, inzwischen der ganze Kiez“, erläutert Kuratorin Kathleen Krenzlin wenig später am Tisch ihres sympathisch chaotischen Büros. Doch es sei schwer, als Kunsthistorikerin noch etwas Neues zum Thema beizusteuern. „Wir wollten nicht das x-te kunstwissenschaftliche Projekt zum Weberzyklus machen.“ Stattdessen rollen sie nun die kulturelle und soziale Topographie auf – wie hat Familie Kollwitz hier in Prenzlauer Berg gelebt, wie war der Zeitgeist, wer waren die Menschen um sie herum.

Mit dem Kinderwagen auf dem Kollwitzplatz

So erscheint begleitend zur Ausstellung ein gleichnamiger Sonderband mit zahlreichen Beiträgen verschiedener Autoren zu Kollwitz‘ Leben in Berlin. Sie sind das Ergebnis einer akribischen Detektivarbeit. Man spürt eine subtil diebische Freude, wenn Bienert am S-Bahnhof Prenzlauer Allee Kollwitz‘ Aquarell „Arbeiter, vom Bahnhof kommend“ hervorholt und erzählt, wie sie herausgefunden haben, dass es sich bei dem abgebildeten Bahnhof nicht – wie seit 70 Jahren angenommen – um den Lehrter Bahnhof handeln kann. Oder wenn er verkündet, ihnen sei die bislang genaueste Grundrissrekonstruktion der Kollwitz’schen Wohnungen gelungen.

 

Das Kollwitzdenkmal wurde 1961 eingeweiht - die Plakette am Sockel ist falsch. (Archivfoto Gustav Seitz Stiftung, Hamburg)

Das Kollwitzdenkmal wurde 1961 eingeweiht – die Plakette am Sockel ist falsch. (Archivfoto Gustav Seitz Stiftung, Hamburg)

 

Über 50 Jahre lebte die Künstlerin mit ihrer Familie in der ehemaligen Weißenburger Straße 25, dem Haus an der Ecke der bereits 1947 umbenannten Kollwitz- und Knaackstraße. Und Einiges scheint sich im Kiez bis heute nicht verändert zu haben. Die Kinder Hans und Peter wurden in ihren „Wägelchen unten auf dem Wörther Platz herumgefahren“, wird Kollwitz‘ langjährige Freundin Beate Bonus-Jeep von Kathleen Krenzlin in einem Aufsatz zitiert. Gut, vielleicht sind die meisten Treppenaufgänge nicht mehr so „schauerlich häßlich“, wie – laut Bonus-Jeep – jener des ansonsten sehr repräsentativen Eckhauses, das 1943 ausgebombt wurde. Erst nach der Wende wurde ein neues – im geschmacklich fragwürdigen 90er-Chic und deshalb damals heftiger Kritik im Kiez ausgesetztes – Eckhaus gebaut. Obwohl klassisches Arbeiterviertel, zeigen alte Fotos doch, dass das junge Ehepaar nicht in ein „übles Mietskasernenviertel“ zog. Teilweise lebte die Familie auf drei Etagen, in der untersten behandelte der Arzt Karl Kollwitz seine Patienten.

Die Kollwitzstraße – ein Verkehrsknotenpunkt

Der Prenzlauer Berg scheint damals an Lebendigkeit mindestens mit dem heutigen mithalten, wenn nicht gar ihn übertreffen zu können. Laden an Laden reiht sich in den Erdgeschossen, auf der breiten, repräsentativen Kollwitzstraße fahren Straßenbahnen und Busse – „ein richtiger Verkehrsknotenpunkt“, sagt Bienert. „Man kam überall schnell hin. Kollwitz war äußerst mobil, ist viel in der Stadt herumgefahren – zum Café Josty am Potsdamer Platz, zu ihrem Atelier in Charlottenburg, in die Hochschule der Künste, später als Professorin. Aus dem Viertel wegzuziehen, stand nie zur Debatte.“ Und, ganz klassisch Prenzlauer Berger Mutter: Mit zwei kleinen Kindern arbeitet die Künstlerin zunächst vor allem grafisch in provisorischen Ateliersituationen. „Aber 1912 hat sie plötzlich das Gefühl, sie muss nochmal etwas Neues machen, sie will plastisch arbeiten. Und zwar zu einem Zeitpunkt“, schmunzelt Bienert, „als die Kinder groß und selbständig sind.“ Was heutzutage vielleicht in einem veganen Café mit französischem Einschlag oder einem Stoffladen mit Babyhosen voller Anker und Einhörner gemündet wäre, führte bei der berühmten Künstlerin zu einem Atelier in Tiergarten – weit von der Familie entfernt. „Sie war eine lebenslustige Frau, die in der reinen Mutterrolle nicht aufgegangen ist“, formuliert es Bienert.

 

Diese Skulptur stand bis in die 90er Jahre an der Stelle des ehemaligen Kollwitz'schen Wohnhauses. (Bildarchiv Museum Pankow)

Diese Skulptur stand bis in die 90er Jahre an der Stelle des ehemaligen Kollwitz’schen Wohnhauses. (Bildarchiv Museum Pankow)

 

Das Elend sichtbar machen

Trotzdem war der Bezirk damals fast Stadtrand, der letzte Zipfel Stadt vorm S-Bahn-Ring. Am Rand lebten die, die am Rand lebten: Alte und Arme im Siechenhaus und im Städtischen Obdach etwa, heute das Krankenhaus in der Fröbelstraße. Dahinter: Unbebautes Land. Das Elend sichtbar zu machen – dieser Anspruch zieht sich durch Kollwitz‘ Werk. Sie besuchte Arbeiterproteste, Frauengefängnisse, das Städtische Obdach, die Armenküche in der ehemaligen Markthalle in der Wörther Straße. Trauernde, verzweifelte und verhärmte Mutterfiguren  – die bekannteste sicher die Pietà in der Neuen Wache. Zwar gab es im Viertel auch eine lebendige bürgerliche Szene, doch auch durch die Arbeit ihres Mannes gehörten Armut und Elend zu Kollwitz‘ Leben. Nachts klingelte es oft, verraten Tagebucheinträge, Notfallpatienten standen vor der Tür. Auch sie finden sich in Kollwitz‘ „Bildern vom Elend“ wieder.

 

"Städtisches Obdach", 1926 (Käthe Kollwitz Museum Köln)

„Städtisches Obdach“, 1926 (Käthe Kollwitz Museum Köln)

 

Doch ein „Armenarzt“ sei Karl Kollwitz nicht gewesen, stellt Kathleen Krenzlin klar. „Er war ein ganz normaler Kassenarzt, mit Leib und Seele. Er hatte seine Privatpatienten, seine Kassenpatienten und behandelte auch diejenigen, die nicht zahlen konnten.“ Beide seien im Kiez bestens vernetzt gewesen, sie „die Künstlerin“, was ohnehin schon außergewöhnlich war, er auch als Kommunalpolitiker. Auch Michael Bienert antwortet zögerlich auf die Frage, ob das Ehepaar Kollwitz bewusst in einen Arbeiterbezirk mit engen Mietskasernen gezogen sei.„Beide hatten ein tiefes soziales Verantwortungsgefühl, standen ja auch eher der Sozialdemokratie nahe“, beginnt er und lacht dann ein wenig. „Es war bestimmt nicht die bewusste Entscheidung, ich gehe jetzt in die Dritte Welt und mache Entwicklungshilfe“.

Das ewige Klettergerüst

Im Rahmen des ausstellungsbegleitenden Filmprogramms zeigt die zehnminütige Doku von 1971 „Versuche – Die Kollwitz und ihre Kinder“ die damals heiße Debatte darum, ob das Denkmal auf dem Kollwitzplatz als Klettergerüst benutzt werden darf oder nicht. Sie wird sicher auch das zeigen, was für die Kinder im Kiez von der Künstlerin mindestens übrig bleibt: Auf ihrem Schoß wird man nie, nie entspannt sitzen können.

 

Das komplette Programm zum 150. Kollwitz-Geburtstag und die Termine für die Stadtspaziergänge mit Michael Bienert hier.

 

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2 Kommentare

Volker Münch 17. Juni 2017 at 12:17

Ich fühle mich vollkommen überrascht und beglückt über die Riesenfülle von Informationen über Käthe Kollwitz in den „Prenzlauer Berg Nachrichten“. Wie verdienstvoll , dass sich ein Journalist zum 150.Todestag der berühmten Künstlerin der Mühe unterzieht, eine solch schöne Würdigung zu publizieren. Wo sind die Beiträge der großen Berliner Zeitungen, warum drückt sich das TV um das Thema, das doch ein unglaubliches Futter für einen Reporter sein muß? Vielen Dank für den großartigen Beitrag, der auch ganz speziell für die „Prenzlauer Berg -Bürger“ eine Wissensbereicherung darstellt, es gibt doch so viele urbane Memos, die hier ihre Erklärung finden. Eine geglückte Werbung für die P.B.N.!

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Constanze Nauhaus 20. Juni 2017 at 12:43

Lieber Volker Münch, herzlichen Dank für die Blumen. Ich denke, dass sich auch andere Medien ausgiebig mit dem Thema befassen werden – der Geburstag ist ja erst am 8. Juli. Zu diesem Datum werden auch wir noch etwas hinterherschicken… Herzliche Grüße! Constanze Nauhaus

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