Häuser bleiben, Menschen gehen

von Cosima Lutz 25. Januar 2016

Für ihr Theaterstück „Wodka Käfer“ klingelte sich Anne Jelena Schulte durch ein Prenzlauer Berger Haus. Sie entdeckte viel Selbsthader, kaum Milchschaum und erfuhr von einer zerstückelten Leiche.

Aber das Vorbild, die Inspiration zu Anne Jelena Schultes Stück, das gerade mit großem Erfolg am Deutschen Theater läuft, ist bereits ein Vierteljahrhundert alt und stammt aus einer längst vergangenen Welt: 1980 klingelte sich die Autorin Irina Liebmann ebenfalls durch ein Prenzlauer Berger Anwesen und hörte den Leuten einfach nur zu. Daraus entstand damals der Band Berliner Mietshaus“, nüchtern, lakonisch, schwer einzuordnen: Den Künstlern und Intellektuellen der DDR fehlte in Liebmanns Skizzen der kritische Kampfgeist, der Obrigkeit die Begeisterung für den Sozialismus. „Wodka Käfer“ begibt sich nun also auf Spurensuche. Und trifft als Momentaufnahme den Nerv der Gegenwart – nicht nur Prenzlauer Bergs. Ein Gespräch mit Anne Jelena Schulte über die tröstlichen und die beängstigenden Dinge, die sie bei ihrer Recherche herausgefunden hat.

 

PBN: In unserer Redaktion hieß es, frag Anne Jelena Schulte unbedingt, in welcher Straße sie geklingelt hat, schließlich sei es doch ein Riesenunterschied, ob man mit Bewohnern der Bornholmer oder der Kollwitzstraße spreche.

Das war eine von diesen schönen Kopfsteinpflaster-Wohnstraßen. Also eher nicht die Bornholmer. Mehr verrate ich nicht. Die Mieter haben ja schon sehr viel von sich preisgegeben. Und eine von ihnen hat auch wirklich schlechte Erfahrungen gemacht, als sie sich für eine Spielstraße engagiert hatte. Die hatte große Angst, jetzt schon wieder in der Öffentlichkeit zu stehen. Die wurde damals ja so richtig durch die Zeitungen gewuppt, als Paradebeispiel für die Schwäbin.

 

So ist es. Ist es so?

 

„Fremd bin ich eingezogen. Fremd zieh’ ich wieder aus“, mit diesen Zeilen aus Schuberts „Winterreise“ beginnt der Theaterabend. So packst du den Zuschauer erst mal an einem womöglich uneingestandenen wunden Punkt: am eigenen Fremdsein. Es wird dann aber auch oft gelacht, es ist ein (befreiendes) Selbsterkenntnis-Lachen. So ist es, will man dauernd sagen. Ist es genau so?

Ich glaube, ich laufe da gerade unter dem Begriff Recherchetheater, aber gleichzeitig leben viele Stücke von Recherche, seit jeher. Und es ist ja doch sehr bearbeitet. Es hat zwar einen ganz großen Anteil an dokumentarischem Material, aber ich würde es nicht Doklumentartheater nennen, weil dafür zu viele Eingriffe vorgenommen worden sind. Und zwar von so vielen Seiten: Es sind Schauspieler und nicht die realen Mieter; die Texte sind verdichtet; es sind Lieder dabei, die veränderte Reihenfolge, die Montage –  da ist so viel Gemachtes, dass es verlogen wäre zu sagen, das hier ist die Wirklichkeit. 

 

„Das sind die, die dir geöffnet haben“, heißt es in dem Stück: „Sechs Frauen. Zwei Männer. Die Frauen im Seitenflügel arbeiten freiberuflich oder sind angestellt auf Zeit. Die Frauen im Vorderhaus sind Mütter ohne festen Beruf. Der Mann im Seitenflügel ist alleinerziehender Vater, arbeitslos, Migrant. Der Mann im Vorderhaus Hausmann und Musiker. Ein wohlsortiertes Haus: Im Vorderhaus Paare mit Kindern, im Seitenflügel die Ungebundenen.“ Und jeder bietet ein anderes Getränk an.

Ja, und keiner hat mir Latte Macchiatio angeboten!

 

Aber Cappuccino. Das war die mit der Spielstraße, oder?

Cappuccino war die mit der zerstückelten Leiche und dem Baby. Bei der mit der Spielstraße gab es diesen Runterdrück-Kaffee und halbierte Bio-Croissants. Kräutertee war die Astrologin.

(Eine der Bewohnerinnen in dem Stück erzählt, dass sie auch mal daran gedacht habe, an fremden Türen zu klingeln, und wie nett sie den einen Nachbarn fand, der mal unter ihr wohnte, und dass der dann mal jemanden in seiner Wohnung umgebracht und zerstückelt habe, weshalb sie von der Idee, an fremden Türen zu klingeln, inzwischen Abstand genommen habe).

 

Hier ist gut frösteln

 

Auffällig ist auch, dass die Figuren andauernd frieren, obwohl sie in einem vermutlich topsanierten Haus wohnen, in dem alles funktioniert. Oder hast du das als Motiv dazugeschrieben, hallo Symbol?

Gar nicht. Es froren wirklich viele. Eine bot mir eine Flugzeugdecke an. Gut, es war natürlich Januar, aber es gewinnt auch eine eigene Qualität. Passt in eine Gesellschaft, die den Einzelnen alleine lässt. Alle Schuld liegt bei dir und alle Verantwortung. Einerseits haben die es ja alle sehr gut, wohnen sehr gemütlich, haben auch Zeit, zuhause zu sein. Und trotzdem sind die Akkus so leer. Ich denke da selber noch viel drüber nach, was mir das eigentlich alles erzählt.

 

Was ist der größte Unterschied zwischen Liebmanns Mieter-Porträts von 1980 und deinen von 2015/16?

Mir fiel die Selbstverständlichkeit auf, mit der die Leute 1980 sagen, ich habe diesen oder jenen Beruf, ich arbeite auf Folgendes hin, und das ist meine Geschichte. In meinen Gesprächen dagegen war das viel, viel fragender und brüchiger, viel selbstreflexiver.

 

Beim Zuschauen vergaß ich irgendwann das Einordnen und Werten der Charaktere, stattdessen kommt die Zeit selbst als handelndes Subjekt ins Spiel.

Das war auch die Absicht: eine Zeit zu porträtieren. So ging mir das auch mit Liebmanns Buch: Es erzählt in der Summe eben doch mehr als die einzelnen Geschichten.

 

Dein Stück ist oft schon ausverkauft und bekam sehr gute Kritiken. Scheint einen Nerv zu treffen.

Ich freu mich, wenn es Resonanz findet und etwas öffnet. Meine Sorge ist aber, dass es so auf Prenzlauer Berg reduziert wird. Hier sind bestimmte Prozesse nur viel schneller oder viel radikaler durchgeführt worden, die aber eigentlich gesamtgesellschaftliche Prozesse und Tendenzen spiegeln. Wie dieses Auseinanderdriften von Arm und Reich und Jung und Alt. Dieser Bezirk ist wie eine Lupe, wo man den Neoliberalismus in einer Art Reinform findet. Dadurch gibt es auch diese Lust am Draufhauen auf Prenzlauer Berg, in der Hoffnung, man könnte das damit eingrenzen, wie so eine Teufelsaustreibung. Aber das ist eine totale Illusion.

 

Bert Papenfuß’ Lösung dafür lautet: weiterziehen nach Weißensee.

(Lacht) Mit den Wohn-Thesen von Papenfuß habe ich mich noch nicht beschäftigt, ich kann zu seiner Perspektive also gar nichts sagen. Generell halte ich aber nichts von diesem „Sag mir, wo du wohnst, und ich sag dir, wer du bist“ – das ist so albern und oberflächlich. Mir haben das die Geschichten jedenfalls gezeigt: Ja, es zeigt viele von diesen Klischees, und dann auch wieder nicht, denn letztlich sind es doch Individuen, die trauriger, abgründiger und auch komischer sind als jetzt zum Beispiel so eine Latte-Macchiato-Mama.

 

Huhu, ich bin nackt!

 

In der Inszenierung von Brit Bartkowiak lösen sich die Identitäten ohnehin auf, und das mit „Du“ angesprochene Publikum kann sich nicht nur in den Porträtierten wiederfinden, sondern wird selbst zum Rechercheur: „Alle, die dir öffneten“, heißt es im Stück, sind zwischen Anfang dreißig und Ende vierzig, ausgenommen der arbeitslose Architekt aus London. Alle, die dir öffneten, sind Akademiker oder Künstler, ausgenommen Astrid. Das sind die, die du angetroffen hast hinter jener gelben Fassade, ehemals Berlin-Ost. Keine Geschichte hast du ausgelassen – keine hinzuerfunden. Niemand hat dich hinausgeworfen – alle haben dich in ihre Küchen oder Wohnzimmer gebeten. Erstaunlich, denn du bist wirklich fremd.“ Wie haben die Leute reagiert, als du plötzlich vor der Tür standst?

Einer hatte keine Zeit, und ein anderer hat nicht mitgemacht. Bei dem hörte ich Computerspiel-Kriegsgeballer hinter der Tür. Ich habe mich dann aber entschieden, es trotzdem zu versuchen. Habe darüber lange nachgedacht, weil ich natürlich auch total Schiss hatte, an fremden Türen zu klingeln, mir war das alles sowieso sehr unangenehm, und dann sagte er, er sei nackt, ich könne aber gerne meine Telefonnummer in den Briefkasten werfen. Das habe ich dann nicht getan. Alle anderen haben sehr bereitwillig mitgemacht. Das war eine schöne Erfahrung, dass eigentlich alle so gestresst sind und keine Zeit haben, und irgendwie geht’s dann doch.

 

Man könnte ja auch denken, jeder ist an die Selbstentblößung gewöhnt, es gibt doch sowieso eine Schwemme an Selbstkundgabe, allein schon auf Facebook. Man fällt überall mit der Tür ins Haus und klingelt ja nicht mal mehr.

Ja, man übernimmt das selber, man lässt sich nicht fragen, sondern erschafft sein Bild. Als ich in der Tür stand, war da oft zuerst dieser Versuch, sich selbst zu präsentieren und zu kontrollieren: welches Bild will ich von mir vermitteln? Es war ein ständiges Hinterfragen der eigenen Sätze.

 

Wie jetzt: ohne Projektbeschreibung und Mailadresse? Einfach so?

 

Im Stück heißt es, man müsste eigentlich erst mal eine Projektbeschreibung in die Briefkästen werfen, mit Mailadresse und allem. Hast du das ernsthaft erwogen?

Ja, ich habe mich umgehört bei Freunden und gefragt: Wie würdest du reagieren, wenn jemand bei dir läutet und fragt, kann ich reinkommen und über dich schreiben? Da hieß es, ich fände es besser, wenn man mich vorbereiten würde, wenn ich was im Briefkasten hätte und ich darüber nachdenken dürfte. Und dann dachte ich, das ist doch gerade schön, dieser Moment, gegen die Zeit zu gehen, gegen dieses Kontrollierte. Und zu sehen, was passiert dann?

 

Wenn man sich hier umschaut, in beinah jedem zweiten Haus sind psychotherapeutische Praxen – das Redebedürfnis scheint ja da zu sein.

Eben, und das ist ja vielleicht auch das Thema, diese Vereinsamung der Menschen, und dann eigentlich doch die Freude daran, gefragt zu werden, im Livegespräch.

 

Und nicht nur für Konsumforschungs- oder Marketingzwecke.

Oder Selbstoptimierung. Ja!

 

Nochmal zurück zum Haus: Du weißt also selbst nicht, ob es dasselbe Haus war, in dem Irina Liebmann 1980 recherchiert hat?

Nein. Es wird nahe gewesen sein, ganz sicher, wahrscheinlich wird es auch dasselbe gewesen sein, aber es gibt keine hundertprozentige Garantie.

 

Der Wandel ist ja nicht das Ende

 

Als einzige Figur, die nicht auf eine Wohnung festgelegt ist, tritt der Kammerjäger auf, der sich mit besagten Käfern auskennt. Eine zugleich morbide wie tröstliche Figur (gespielt von Michael Gerber). Der Kammerjäger hat sich auch nicht verplappert? Er wirkt so, als sei ihm diese Indiskretion zuzutrauen.

Nein, hat er nicht, aber er kannte natürlich den Bezirk, wie er damals war. Ein Wanderer zwischen den Zeiten. Das war die Idee, dass man durch ihn in die Vergangenheit guckt, er ist wie so ein Medium.

 

Und er ist auch ein Fachmann für den Tod.

Und dadurch für das Vergehen der Zeit. Dafür steht dieser Abend, für diesen Wandel, der ja auch nicht das Ende ist – es wird ja immer, immer weitergehen. Und das hat fast was Unheimliches. Ich habe mit Irina Liebmann lange darüber gesprochen: So ein Haus, das bleibt, als Körper. Und die Menschen sterben. Oder ziehen weg.

 

Sich damit auseinanderzusetzen, dass man nur ein Vorübergehender ist, das mag halt keiner.

Ja.

 

Pseudo ist doch auch bloß pseudo

 

Könnte man das zuspitzen zu der Behauptung, dass angesichts des Todes all diese Unterscheidungen egal werden, das Authentische und Echte auf der einen, pseudo auf der anderen Seite?

Zumindest wird durch das Vergehen der Zeit alles so kostbar. Und dadurch das Werten immer schwieriger. Was aber nicht heißt, dass es nicht Dinge gibt, die ich gut oder falsch finde; die mir näher sind oder sympathischer. Mir kam zum Beispiel vieles von dem, was die Mieter erzählen, auf unangenehme Weise sehr bekannt vor (und auch den anderen, die am Stück beteiligt sind). Das sagt aber eben auch so viel, viel mehr als nur über Prenzlauer Berg. In den Gesprächen haben sich die Leute permanent selbst verurteilt: ach, das kann ich nicht, eigentlich bin ich nicht weit genug, meine Karriere stockt, ich bin nicht gut genug. So eine Ängstlichkeit bei vielen. Das finde ich total traurig und auch falsch.

 

Hm, war also früher, zu Liebmanns Zeiten, alles besser?

Toll an den Liebmann-Geschichten ist ja dieses andere Selbstbewusstsein, diese Lebenskraft, die da rausspricht aus vielen ihrer Figuren. Auch das ist bestimmt nicht bloß eine Frage des individuellen Charakters, sondern ist „Gesellschaft“, was aber nicht heißt, lasst uns zurückkehren in die DDR. Sondern: dass Dinge verloren gegangen sind, über die nachzudenken sich lohnen würde. Was das war, und wo das herkommt, dass so eine Verzagtheit, so ein Kontrollwahn und so eine Erschöpftheit präsent sind bei so vielen.

 

                                                                           * * *

 

Anne Jelena Schulte kommt aus Schöneberg und zog vor ungefähr 16 Jahren nach Prenzlauer Berg („alter Mietvertrag, heute könnte ich nicht mehr herziehen“). Sie studierte an der UdK Szenisches Schreiben und steuert für den Tagesspiegel seit zehn Jahren Nachrufe bei. Letztes Jahr war im Deutschen Theater ihr Stück „Zur Not gibt’s ’ne Stulle weniger“ zu sehen: Dazu traf sie „die letzten alten Arbeiter Prenzlauer Bergs“, wie sie sagt, in der „Herbstlaube“ in der Dunckerstraße. Ihr nächstes Stück über betagte europäische Emigranten in Buenos Aires ist gerade in Arbeit.

Der Titel „Wodka Käfer“ bezieht sich übrigens auf den Braunen Pelzkäfer, mit dem sich der Kammerjäger im Stück natürlich bestens auskennt: Sein lateinischer Name Attagenus smirnovi erinnert den Fachmann für Ungeziefer an eine Wodka-Marke. Nächste Vorstellungen (Deutsches Theater, Box): 8., 14. und 24. Februar.

 

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2 Kommentare

Gerald Schneider 11. Juli 2017 at 17:08

Auf der Suche nach der Adresse von Anne Jelena Schulte bin ich schließlich auf eurer Seite gelandet. Würde euch auch unterstützen trotz eigener Armut, finde aber kein Konto der pbN. ..
Und wäre natürlich begeistert, wenn sich irgendwie ein Kontakt zu Anne Jelena Schulte ergäbe. Es geht um ihr Stück für Bremerhaven, zur Geschichte des Norddeutschen Lloyd…

Antworten
Kristina Auer 12. Juli 2017 at 10:23

Lieber Gerald Schneider,

unterstützen kann man uns hier. Ich habe mal nachgeschaut, wir haben leider auch keinen Kontakt mehr zu Anna Jelena Schulte. Vielleicht weiß der Tagesspiegel mehr? Dort schreibt sie regelmäßig. Beste Grüße!

Antworten

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