Vor dem Notstand

von Thomas Trappe 16. Dezember 2015

Eine Obergrenze für zu Flüchtlingsunterkünften umfunktionierte Sporthallen will der Senat nicht nennen. Derweil droht der medizinische Ausnahmezustand. „Das artet aus“, heißt es bei der Ärzteschaft.

Pressesprecherin in der Senatsverwaltung für Gesundheit zu sein, einer in der öffentlichen Wahrnehmung durchweg gescheiterten Behörden, das ist derzeit kein Vergnügen. Monika Hebbinghaus kann das schlecht verbergen, und man kann sie verstehen. Seit Wochen Anfragen entgegennehmen, wann jetzt denn der Chef, Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) endlich zurücktritt, und ob das ihm unterstellte und für Flüchtlinge zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) inzwischen endgültig kollabiert ist – das nimmt einen mit. „Meinen Sie denn wirklich, wir beschlagnahmen Turnhallen zum Spaß, wenn es andere Alternativen gäbe“, fragt Hebbinghaus dann durchaus aufgewühlt im Gespräch zurück. Und ja, selbstverständlich werde man auch in Prenzlauer Berg weiter Turnhallen als Flüchtlingsunterkünfte in Beschlag nehmen, solange Flüchtlinge nach Berlin kommen. „Natürlich macht das Kinder und Eltern nicht glücklich“, sagt Hebbinghaus, und dann wieder im offiziellen Ton: „Wir können da nur um Geduld und Verständnis bitten.“

Geduld und Verständnis – nichts liegt den Verantwortlichen im Bezirk gerade ferner. Drei Turnhallen sind in Prenzlauer Berg derzeit als Flüchtlingsunterkünfte in Nutzung, im gesamten Bezirk Pankow fallen aktuell 700 Stundenwochen Sport aus. Für Eltern eine belastende Situation, selbst die Wohlmeinendsten, auch unter aktiven Helfern in den Unterkünften, fragen sich inzwischen, ob das denn einzige Möglichkeit sei? Unterstützt werden sie dabei vom Bezirksbürgermeister Matthias Köhne (SPD), der im Gleichklang mit der SPD auf Senatsebene gerade fleißig gegen den Wahlkampfgegner von morgen stänkert, den Koalitionspartner CDU in Gestalt von Senator Czaja. Ihr kommt hier nicht rein, ist von Köhne seit ein paar Wochen mit Blick auf die Turnhallen an die Senatsadresse zu hören, was nichts daran ändert, dass hier weiter beschlagnahmt wird.

 

Senat beklagt Verweigerungshaltung des Bezirks

 

„Es gibt keine Abstimmung“, bekräftigt Köhne auf Nachfrage der PBN. „Das Bezirksamt wird durch das Lageso informiert, dass die Halle sichergestellt wurde und muss sich dann so gut wie alle weiteren Infos selbst besorgen.“ Sich dagegen zu wehren, sei unmöglich, immerhin gelte das Bezirksamt als Teil der Berliner Landesverwaltung. Und mit eigenen Ideen für alternative Unterbringungen komme man auch nicht weiter. Die, so Köhne, „werden kaum als alternativ, sondern nur als additiv betrachtet. Leider wird durch das Lageso nicht an den möglichen Standorten mit dem notwendigen Nachdruck daran gearbeitet, diese als Unterkünfte herzurichten.“

Ja, der Köhne. So ungefähr kann man die Reaktion in der Senatsverwaltung auf diese Vorwürfe paraphrasieren. Sprecherin Hebbinghaus formuliert offiziell zurückhaltender und verweist darauf, dass es ja durchaus Gespräche mit Pankows Bürgermeister gegeben habe. „Wir sind dann aber auch darauf angewiesen, dass die Bezirke Hallen nennen“, sagt sie, dann sei auch eine Abstimmung über Standorte möglich. Köhne aber verweigere sich schlicht einer solchen Übereinkunft. Mit der Folge, dass vom Land das beschlagnahmt werde, was geeignet erscheine. Und Turnhallen, sagt Hebbinghaus, fänden sich nun mal vor allem in der Innenstadt. Und wenn es, wie Köhne sagt, besonders viele im Bezirk Pankow seien, liege das daran, „dass dort anscheinend besonders viele geeignet sind“.

 

„Wir nehmen jedes geeignete Gebäude“

 

Die Kooperationsbereitschaft zwischen Land und Bezirk scheint im Moment jedenfalls akut erstarrt. Köhne fordert „eine regionale Gleichbelastung der Bezirke“ bei der Requirierung von Turnhallen, das Land kann mit dieser Forderung nichts anfangen. In Prenzlauer Berg klagt man massenhaft wegen ausfallenden Schulsports, in der Senatsverwaltung sagt Monika Hebbinghaus, ihre Leute könnten sich nicht auch noch darum kümmern, Alternativsporthallen für die Klassen zu organisieren. Köhne sagt, es müssten doch noch andere Unterkünfte zu finden sein. Monika Hebbinghaus fragt, wie leicht man sich das eigentlich vorstelle? Große Unterkünfte verfügten oft über keine funktionierende sanitäre Infrastruktur, die Turnhallen hätten wenigstens Duschen. „Wir nehmen jedes geeignete Gebäude“, betont sie. „Es wird versucht, alles möglich zu machen. Die Bezirke machen es sich oft sehr leicht mit ihren Vorwürfen.“

Die Flüchtlingsunterbringung ist in Berlin damit endgültig zu einer Sache der Notverwaltung geworden. Die zahlreichen Lücken füllt die Zivilgesellschaft. Also jene Menschen, die sich entschieden haben, oft neben Familie und Beruf nun auch noch ehrenamtliches Engagement in Flüchtlingsunterkünften unter einen Hut bringen. Diese Helfer finden sich in der ganzen Stadt, aber vor allem im Zentrum, sei es Prenzlauer Berg, im Wedding, in Moabit, Tempelhof oder Kreuzberg. Es ist mehr als fraglich, ob die Versorgung der Flüchtlinge sonst überhaupt möglich wäre, und die Politik weiß das. „Wir wollen, dass die Akzeptanz so hoch bleibt“, sagt dann auch Monika Hebbinghaus, zumal inzwischen der „Markt leer gefegt“ sei, gehe es um Betreiber für Flüchtlingsunterkünfte oder eben Personal dafür. Trotz unübersehbarer Frustrationstendenzen allerorten funktioniert das bisher ganz gut. Noch. Denn geht es um die medizinische Versorgung der Flüchtlinge, steht das schlimmste noch bevor. Das jedenfalls fürchtet die organisierte Berliner Ärzteschaft.

 

Ein Einsatzwagen für drei Bezirke

 

Donnerstag vor einer halben Woche: Die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin tagt. Die KV ist zuständig für die medizinische Sicherstellung durch niedergelassene Ärzte in der Stadt, in ihr sind zum Beispiel auch jene Kollegen organisiert, die in ihren Praxen Flüchtlinge behandeln, gelegentlich unter weiter Auslegung des Sozialgesetzbuches. „Ich hätte nicht gedacht, dass das alles so ausarten kann“, hörte man also am Donnerstag von der KV-Vorstandsvorsitzenden Angelika Prehn, und sie meinte das als Prognose für die kommenden Wochen. Denn wenige Tage zuvor hatte die Senatsverwaltung für Gesundheit die KV offiziell gebeten, die medizinische Versorgung der Flüchtlinge über die eineinhalb Feiertagswochen sicherzustellen. 

Zum Hintergrund: Das Lageso wird an Weihnachten seine Türen schließen. Sämtliche Flüchtlinge, die in dieser Zeit in Berlin ankommen, können sich dann nicht registrieren, und wie die Verteilung über die Stadt funktionieren soll, weiß niemand. In der KV geht man davon aus, dass etwa 4000 bis 8000 Flüchtlinge auf dem Tempelhofer Feld campieren werden, analog katastrophal wird sich dann wahrscheinlich die Situation in den Turnhallen verschärfen. Der schlimmstmögliche Fall wären unzählige Flüchtlinge, gefangen in einer echten Weihnachtsgeschichte: Auf der Flucht und der Suche nach einem Obdach. Für das Wunder soll dann die KV sorgen: Mit vier Einsatzwagen – also einem Wagen für drei Bezirke und mehr als 10.000 Flüchtlinge.

Das nämlich ist das Kontingent an Wagen des Bereitschaftsdienstes, das die KV zusätzlich zu den bestehenden Ressourcen zwischen Heiligabend und 4. Januar zur Verfügung stellen kann. Allerdings geht es dabei zunächst nur um die Autos – die fahrenden Ärzte müssen alle noch gefunden werden. Gerade zur Weihnachtszeit ist dies schon unter normalen Bedingungen schwer, jetzt ist es eine echte Herausforderung. „Mir wird bei dem Gedanken an Weihnachten ganz anders“, sagte Angelika Prehn. Anders gesagt: Auch unter den Zuständigen hat die Hoffnung das Planen ersetzt.

 

Ärzte befürchten Epidemien

 

Sind Weihnachten und Neujahr in den Sammelunterkünften überstanden, ist allerdings schon jetzt der nächste medizinische Notstand absehbar: Influenza-Wellen. Erst kürzlich nämlich empfahl das Robert-Koch-Institut, sämtliche Menschen in den Erstaufnahmeeinrichtung gegen Influenza zu impfen, da „durch das enge Zusammenleben ein im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung erhöhtes Risiko“ bestehe und wegen der Sprachbarrieren „die Identifizierung des Risikogruppen schwierig sein“ könnte.

In den Stadtstaaten Hamburg und Bremen, monierte die KV bei ihrer Sitzung, sei dies schon umgesetzt. In Berlin hingegen stoße man bei der Senatsverwaltung auf taube Ohren, Ähnliches berichtete der Berlin-Brandenburger NAV-Virchow-Bund, einem Berufsverband der niedergelassenen Ärzte, der nach eigenen Angaben schon Anfang dieses Jahres auf das Impfproblem aufmerksam gemacht habe. Hörte man den Ärzten in der KV-Versammlung zu, scheint es weniger eine Frage des Ob als des Wann, dass eine Influenza-Epidemie die Sammelunterkünfte ergreifen wird, zumal bald noch mehr Menschen ihre Flucht durch den Winter hier beenden werden. Auch Befürchtungen über neue Masern-Ausbrüche oder Keuchhusten-Wellen sind zu hören.

„Wir haben schon so viel geschafft“, sagt Sprecherin Monika Hebbinghaus. Sie verweist auf die Verdopplung der Sammelunterkünfte seit Juni und die 20.000 Menschen, die derzeit dort untergebracht sind. Der soziale Frieden in den Kiezen sei gefährdet, entgegnet Bürgermeister Köhne. Unrecht hat keiner. Und die größten Tests, sie stehen noch bevor. Dem Land wie dem Bezirk. Den Flüchtlingen wie den Helfern.

 

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